Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 9: II. Traum

[51-53] 1. Juli 1916.
Ich habe die Nacht in einem Loch verbracht, so lang wie ein Grab, aber nur halb so tief. Es ist zum Schutz gegen Schrapnellkugeln und Wetter abgedeckt mit Stämmen und Erde, und die Spalten sind mit Weizenstroh verstopft. Aber es tropft durch, tropft immerzu von jedem Halm, von jedem Holz — tropft auf Füße und Hände, auf Leib und Gesicht. Das Stroh, auf dem ich liege, scheint mit Mörtel vermengt zu sein.
Nebenan im Loch liegt, krumm wie ein Igel, ein Toter, und aus seinem aufgeschlitzten Bauch hängen [S. 52] die Eingeweide heraus. Er wird morgen begraben werden.Ich bin so matt, so müde. Ich schließe die Augen und träume mich in einen wilden Halbschlaf hinüber. Es ist ein schauerlicher Traum, der mich überkommt:
Man hat mich irgendwo vor langer Zeit begraben. Da fällt mir ein Tropfen auf die Augen, und ich werde sehend und erwache zum Leben.

Es tropft durch alle Spalten. Ein ekler Blutgeruch erfüllt den Sarg wie einst die Mulde von Pustomyty. Und von dorther sehe ich vielhundert Ströme warmen Blutes von vielhundert Leichen, aus Stirn und Brust rinnend, über Berge und durch Täler auf meinen Hügel fließen, der sie vereinigt trinkt. Als mein Leichengewand sich vollgesogen hat mit tropfendem Blut, als eine rote, qualmende Glut den Sarg erleuchtet, als die blutschwere Erde die morschen Bretter zu zerbrechen droht, da stemme ich Knie und Arme und Schädel gegen Sargdeckel und Erde, die mich erdrücken wollen, um alle Bande zu sprengen.
Ueber diesem Ringen aber erwache ich. —
Ich habe keinen trockenen Fetzen mehr am Leibe. Eine sengende Hitze glüht in mir, und doch zittere ich vor Frost. Ich muß Fieber haben. Wir kommen ja alle noch so weit, daß wir krumm werden vor Gicht und aussätzig vor Läusebissen.

Eine dumpfe Leere gähnt in mir. Ich weiß nicht mehr, was ich will und denke.
O, würden die millionenfachen Schreie der Verzweiflung doch endlich durch die gepolsterten Türen dringen, hinter denen ihr auf weichen Stühlen um [S. 53] Ministertische sitzt, ihr, über die dereinst das Blut ganzer Geschlechter kommen wird. —
O, mein Herz, verzweifle nicht! Gedulde dich, über ein Weilchen scheint die Sonne wieder, die nun seit Tagen schon ihren Glanz hinter Wolken verbirgt, als ob der Himmel selbst die Menschen zum Frieden zwingen wollte. Das Schicksal geht nicht deshalb so gnädig an dir vorüber, um dir nur folternde Qualen zu schicken, die in dieser unendlichen Oede die Seele heimsuchen.


Persons: Egly, Wilhelm
Places: Friedberg · Pustomyty
Keywords: Blut · Geruch · Gicht · Grab · Hitze · Läuse · Ungeziefer · Leichen · Qualen · Sarg · Tagebücher · Tod · Traum
Recommended Citation: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 9: II. Traum“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/65-9> (aufgerufen am 25.04.2024)