Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 8: II. Waldlager II

[47-50] 29. Juni 1916.
Im Waldlager. Höchste Alarmbereitschaft. Gegen Mittag rücken wir ab. Marschieren in nördlicher Richtung durch endlose Wälder. Drückende Schwüle.
[S. 47] Ein heftiges Gewitter prasselt los. Strömender Regen überrascht uns auf freiem Feld. Wir kriechen unter die Wagen. Nach einer halben Minute aber liegen wir schon im Schlamm. Die Fahrer suchen Schutz zwischen den Vorderbeinen und unterm Hals ihrer Pferde.
Nach langer Irrfahrt findet uns gegen Abend, als der Himmel sich aufzuhellen beginnt, die Feldküche. Es ist nicht viel, was sie bringt: für jeden Mann eine Feldflasche voll Kaffee und für je zehn Mann ein Brot und einen Hering als Verpflegung für drei Tage. Keine Bagage kann nachkommen, so grundlos sind die Wege, so unbestimmt ist das Ziel ihrer Truppen. Vor Hunger haben wir zwischen den Handflächen aus Hafer- und Weizenähren die Körner herausgerieben, um sie roh zu essen.

30. Juni 1916.
Nein, eine solche wilde Nacht habe ich noch nicht erlebt! Die Wolken scheinen auf die Erde zu stürzen, und die Wasser fluten über alle Kreatur, als ob sie die Menschen und ihren Hader hinwegschwemmen wollten.
Wir stecken mitten im Wald bei Watyn und kommen, die Augen in chaotische Finsternis bohrend, nur stückweise vorwärts. Vier- und sechsspännig schleifen die schnaubenden Pferde die Wagen einige hundert Meter weiter, werden wieder ausgespannt, um das nächste Fahrzeug heranzuholen. Mehr als ein Fahrer fliegt in hohem Bogen vom Bock herab ins Gebüsch oder an einen Stamm, und wenn's einer gut trifft, so landet er im kalten Schlamm, in den die Räder bis über die Achsen und die Menschen bis zu den Oberschenkeln einsinken.
Wir waten, mit den Händen in der Luft rudernd, immerzu und ziehen uns an dünnen Zweigen vorwärts, [S. 48] bis wir nach Stunden endlich eine Lichtung erreichen, wo wir Befehle erwarten müssen. Die erhitzten Leiber aber zittern in der Nachtkälte. Wir sind erschöpft und spüren keinen Hunger und haben doch nichts anderes im Magen als einen Bissen Brot, ein Stückchen Hering und rohe Getreidekörner!

Was liegt daran, daß die Kugeln durch die Zweige peitschen und Aeste knacken und in die Stämme klatschen, als ob ein Gerippe in den Bäumen hockte und mit dürren Knochen schauerlich klapperte?

Was liegt daran? Was liegt an der Welt? Was liegt an Leben und Tod?
Unsinn! denke ich, es ist doch gut, daß du nur bis an die Kniee eingebrochen bist und in diesem Morast keinen Stein am Halse hängen hattest!
Was man sich selbst aus einer Sache macht, — so ist sie und nicht schlimmer.

30. Juni 1916.

Unter Bäumen auf regengetränktem Moos haben wir in der Nacht geschlafen, der alte Major zwischen uns. Wieder stäubt ein feiner Regen vom grauen Himmel. Fauchende Schrapnelle prasseln in die Wipfel, berstende Granaten hauen zwischen die Stämme, hinter die wir flüchten. Verwundete schreien. Ein schmetterndes Echo hallt durch den erwachenden Wald, in dem wie zerschossene Fahnen Nebelfetzen hängen.
[…]
Mein Nebenmann sinkt lautlos in sich zusammen. Aus der klaffenden Wunde, welche die Schlagader am Halse zerrissen hat, strömt das hellrote Blut. Er hat den Querschläger aufgefangen, der mir in die Schläfe gedrungen wäre und den Kopf zerschmettert hätte. Kamerad, dir ist nicht zu helfen. Dich verbinden, hieße deine Qual verlängern. Ich kann das Wort nicht verstehen, das deine blutigen Lippen flüstern wollen, über die kein Hauch mehr kommt. Was soll mir der traurige Blick deiner brechenden Augen sagen, der mir das Herz zerreißt?

Hab' Dank, Kamerad! Ich hätte gern den Blutzoll geteilt, wenn du nicht hättest sterben müssen. —

Die Granaten der schweren Mörser und Haubitzen, die uns den Weg ebnen sollen, rauschen hinüber zum Feind.Die Halme rascheln und knistern unter unserm Tritt.
[S. 50] Aus tausend Gewehren sprüht uns der Tod entgegen.

[…]


Persons: Egly, Wilhelm
Places: Friedberg · Watyn
Keywords: Brot · Feinde · Feldküchen · Granaten · Heringe · Hunger · Kaffee · Kameradschaft · Marsch · Tagebücher · Tod · Verpflegung · Zeltlager
Recommended Citation: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 8: II. Waldlager II“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/65-8> (aufgerufen am 26.04.2024)