Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 42: V. Überlegungen zur Vermisstmeldung des Bruders

[109-110] 22. August.
[…] Mein Bruder Friedel bei Verdun. Im Fosseswald. Am neunten August ist er in Stellung gegangen. Er ist also ins schönste Feuerchen gekommen. Seit dieser Zeit bin ich ohne Nachricht von ihm.
Wenn alles gut gegangen ist, so ist er mindestens in Gefangenschaft geraten.

23. August.
Ein Tag stiller Erinnerungen. Vor drei Jahren bin ich Soldat geworden.
Drei Jahre rauher Wirklichkeit, die als tosende [S. 109] Wirbel, als brausende Flut vorübergezogen und verebbt sind im unendlichen, ewigen Meer der Zeit.
Man verliert den Sinn für zeitliche Entfernungen, die ohne Grenzen zu sein scheinen. Nur die Tage, an denen der treue Bruder, der Jüngling Tod, im Feuer vorüberging und uns nicht berührte mit dem erlösenden Palmenzweig — nur die Tage, die dem Gedächtnis geliebter Menschen geweiht sind, bedeuten Marksteine in der Flucht der Jahre.

28. August.
Mein Bruder vermißt!
Was heißt vermißt? Du weißt es nicht!
Erstickt im Qualm, umgekommen im giftigen Gas, verschüttet, erdrückt und zerquetscht von niederstürzenden Erdmassen, durchbohrt von splitternden Gewehrschäften und Stollenbrettern, zerrissen in blutige Fetzen?
Der Fosseswald ist verloren. Wenn mein Bruder nicht gefangen vom Feinde abgeführt wurde, so werden wir lange auf Kunde von ihm warten müssen.
Aber es gibt keine Prüfung, die so schwer ist, daß sie nicht zu ertragen wäre.
So bin ich denn durch unendlich lange Gräben und um tausend Schulterwehren gegangen; und keuchend geklettert und gekrochen über leichenstinkendes, trommelfeuerzerrissenes Gelände.Wenn ich in dunkler Nacht mich zu verirren drohte, so hat das milde Licht des Polarsterns mir den rechten Weg gezeigt.
Wem es vergönnt ist, diesen Krieg zu überleben, dessen Leben wird ein langer Schützengraben mit tausend [S. 110] Schulterwehren sein. Darinnen aber stehen Schulter an Schulter die Kämpfer. Wir sind alle hart geworden in der Arbeit, streng gegen uns selbst, stolz gegen den Feind, demütig vor dem Schicksal, das mit schweren Bürden belastet, und vor Gott, der die Kraft gibt, sie ungebeugt zu ertragen. Wir leiden alle, jeder sein eigenes Leid und das des andern. Dadurch aber ahnen und fühlen wir die Zusammenhänge von Mensch zu Mensch: durch Mit-Leid wissend.
Auch der Schützengraben und die Schulterwehren des Lebens werden eingeschossen und trichternarbig. Ich werde den Kampf nicht scheuen und darüber hinwegkommen. Wie einst der Nordstern uns den rechten Weg im feindlichen Feuer, im fremden Land gezeigt hat, so wird durch das zerklüftete Feld des Lebens mich das goldene Dreigestirn der goldenen Worte führen:
Dennoch! Hindurch! Empor!


Persons: Egly, Wilhelm · Egly, Friedel
Places: Friedberg · Verdun
Keywords: Erinnerung · Feind · Gas · Gefangenschaft · Jüngling · Kampf · Schicksal · Schützengräben · Soldat · Stellungen · Tagebücher · Tod
Recommended Citation: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 42: V. Überlegungen zur Vermisstmeldung des Bruders“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/65-42> (aufgerufen am 25.04.2024)