Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 23: Nahkampf und Kriegsgräuel bei Poelkapelle

[330, 343]
Noch vor Tag sprangen wir auf, die Morgenkälte hielt uns nicht mehr am Boden; gleichzeitig empfingen wir bei der Kompagnie Mundvorrat und traten weg. Eben kam der Bataillonsadjutant den ich von der Schule her kannte, und heftete sich gerade das Eiserne Kreuz an, das er für irgendwelchen Dienst erhalten. Ich gratulierte ihm und ließ mir den Weg zu unserm Bataillon weisen, das nur denn auch bald in den ersten Morgenstunden fanden. Nachdem wir uns bei der Kompagnie gemeldet hatten, traten wir wieder ins Glied, und ich war glücklich, wieder bei meinen Kameraden zu sein. Noch waren wir am Austausch des Erlebten, als es Plötzlich „Antreten" hieß. Gestern hatte das Bataillon Ruhetag gehabt; heute sollte es um so mehr leisten, das fühlten nur alle. „Kinder, es gibt heute einen heißen Tag", meinte ahnungsvoll der Gefreite S. neben mir. Es lag so schwer in der Luft …

Gegen 9 Uhr morgens setzte sich unser Bataillon in Marsch. Vor uns das Städtchen Langemarck1 sollten wir nehmen, nachdem es noch bis 11 Uhr mit Artillerie beschossen sei.

Dieser Freitag, der 23. Oktober, war ein allgemeiner Angriffstag auf der ganzen Linie unseres Korps, das mit anderen gegen den Feind in dem Abschnitt Ypern bis Dixmuiden2 lag. Es waren die Tage der ersten heftigen Kämpfe, die nach dem Mittelpunkt, dem alten Ypern, ihren Namen erhalten haben und die gegen Mitte November ihr erstes Ende fanden3, indem es dem Gegner gelang, mit Hilfe der Überschwemmung des Operationsgebietes durch den Yserkanal die gesamte deutsche Offensive des äußersten rechten deutschen Flügels bis ans Meer hin zum Stehen zu bringen.

[S. 343]

G.C. Langsam gehen wir an diesem Freitagmorgen vor, aus dem Wäldchen heraus, in dem das Bataillon die Nacht über gewesen war. Schnell sind die Kompagniekolonnen formiert und links und rechts von uns, soweit wir sehen können, zum Angriff vorgehende Bataillone. Noch halten wir in Stellung, während andauernd unsere Artillerie ihre eisernen Grüße über uns weg in das Städtchen Langemarck schleudert. Punkt 11 Uhr verstummt plötzlich die Artillerie und Infanterie setzt zum Angriff ein. Von der leichten Höhe aus sehen wir vor uns in einem feinen Dunst eingesponnen den Ort mit hohen Baumgruppen durchsetzt malerisch daliegen. Schon auch sehen wir links von uns Infanterie ihre Sprünge machen und immer gewaltiger füllt sich die Luft mit dem unabgebrochenen Knattern des Gewehrfeuers. Einen Hopfengarten mit den dicken Balkengerüsten durchziehen wir, ohne Feuer zu bekommen; nur totes und schwergetroffenes Vieh liegt umher, sich brüllend vor Schmerz auf dem Boden windend. Schwierig ist's, durch alle die Gartenhecken zu kommen, die der Feind zudem noch mit Stacheldraht durchwirkt hat. Links und rechts von uns mörderischer Kampf; uns umschwirrt kein Geschoß. Wieder stehen wir vor Stachelhecken und brechen sie mit Mühe. Ungeduldig meint der Hauptmann von der 2. Kompagnie: „Na, heute gibt's mal wieder nichts für uns" und steckt sich eine Zigarre an. ... Wieder gehen wir vor; da auf einmal bekommen wir aus nahen Häusern heftiges Feuer. Schnell legen wir uns hin und erwidern; einige von uns werden angekratzt. Schließlich ein Zug: Sprung auf gegen das Haus. Ein Gleiches tut drüben die zweite Kompagnie. Wir mit Hurra drauf los und mit einem Schlage verstummt das Feuer aus dem Hause vor uns. Schon sind wir dicht davor, da öffnet sich die Tür und ein Zivilist tritt heraus und zynisch unterwürfig grüßend will er sich entfernen. Das ist zu frech! „Der Mann wird erschossen!" Kaum hat's der Hauptmann über die Lippen gebracht, liegt der Kerl röchelnd am Boden. Wir ins Haus. Das ist leer; zum Hintertor ist die Gesellschaft hinausgesprungen, ohne jedoch ihre schwer verwundeten Kameraden weiter mit zu nehmen als bis in den Garten. ... Wir können uns jetzt nicht um Verwundete kümmern; den Feuerbrand ins Haus und weiter. ... Durch eine Wiesenmulde, die dicht mit Stacheldraht durchflochten ist, kriechen wir mehr als daß wir gehen. Wie wir am Hindernis sind, fällt ein mächtiges Feuer auf uns. An dem regelmäßigen Pfiff der Geschosse merken wir, daß es Maschinengewehre sind; und schon hören wir auch deren uns im Vergleich zu dem der unseligen so langsam anmutendes takk, takk, takk. ... Mit fieberhafter Eile arbeiten wir uns durch den Draht, mancher bleibt schwergetroffen drin hängen; ich selbst habe mir die linke Hand blutig geschunden. Vorwärts! Eine kleine Erdwelle links und rechts ein Wäldchen decken uns gegen weiteres Feuer. Nur vorwärts!


  1. Heute Langemark-Poelcapelle, nördlich von Ypern.
  2. Diksmuide, etwa 19 km nördlich von Langemark.
  3. Die Erste Flandernschlacht zwischen alliierten und deutschen Truppen in Westflandern vom 20. Oktober bis zum 18. November 1914.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Langemark · Ypern · Dixmuiden · Yserkanal
Sachbegriffe: Eisernes Kreuz · Überschwemmungen · Artillerie · Infanterie · Stachldraht · Kriegsgräuel · Maschinengewehre · Erste Flandernschlacht
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 38: Nahkampf und Kriegsgräuel bei Poelkapelle“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-23> (aufgerufen am 02.05.2024)