Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 3: Angst und Erschrecken zu Kriegsbeginn

[18-19] Und das Verhängnis ging wirklich den vorausgefühlten Gang.
Zufällig hatten mich dringende Geschäfte nach auswärts gerufen, als der Belagerungszustand verhängt wurde. Sofort eilte ich nach Hause und war der erste, der diese vielsagende, alles Furchtbare verkündende und dennoch auch befreiende Nachricht ins Dörfchen brachte.
Sie stellten sich nicht freudig um mich herum. Und niemand sang den Choral von Leuthen. Aber sie weinten. Sie hatten's ja mehr als geahnt.
Eine Viertelstunde nach meiner Ankunft liefen ein paar Schulkinder als meine Boten durch das Dorf. Sie verkündeten in den Häusern, daß wir am Abend um halb neun Uhr eine Gemeindeversammlung in der Kirche abhalten wollten.
Als die Zeit gekommen war, stieg ich langsam als letzter die Anhöhe zur Kirche hinauf. Die meisten Leute saßen schon drinnen im Gotteshaus. Einige aber standen noch auf dem Platze davor und flüsterten aufgeregt miteinander, zeigten gegen Osten und staunten . . .
„Herr Pfarrer, der Mond!"
Ich kam näher und — es sei gestanden — auch mir ging es wie ein Schrecken durchs Herz: blutigrot — ich selber habe ihn vorher niemals so gesehen — stand der Mond in dem leichten Dufte über dem Tal.
„Ein Zufall !" sagte ich zu den Aufgeregten. „Ein Symbol!" so dachte ich bei mir selbst. [S. 19] Allein, hier war mehr als Zufall und Symbol.
„Herr Pfarrer, das ist der Krieg!" tönte es an meine Ohren.
So geleitete uns das Omen in den Krieg.
So schreckt es auch im Kriege unsere Seelen .
Es war ein wundervoll herbstlicher Abend. Schon dunkel und ohne einen Mondstrahl über'm Gebirge war dennoch die Welt voll eines heimlichen Glanzes. Ob das von den Sternen kam, die in entzückender Klarheit vom Himmel leuchteten? Oder ob es mir selber nur so zumute war?
Langsam und fast zögernd in der feierlichen Dunkelheit schritt ich auf der Straße außerhalb des Dorfes dahin. Ich dachte an all das Schwere, das wir miteinander durchzumachen hatten; an das Erhebende auch, das wir gemeinsam erleben durften in dieser Kriegszeit.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Kriegszustand · Kirchen · Gemeindeversammlungen · Kriegsangst
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 3: Angst und Erschrecken zu Kriegsbeginn“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-3> (aufgerufen am 07.05.2024)