Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 4: Einberufungen und erste Gefallene aus dem Dorf

[20-22] […] Bei den Kundenmüllern im Tal hatten sich die ersten Kriegsnöte gemeldet. Den Sommer über, wo nicht viel zu mahlen war, war manches in den Betrieben leck geworden. Nun hatten sie die Mühlen [S. 21] voller Reparaturen, die Speicher beladen mit neuem Korn, aber keinen Mühlenbauer zur Instandsetzung der Werke. Der übte ja in Mainz bei der Ersatzreserve.
Ein begründeter Bericht holte ihn nach Hause ...
Aber schnell war sein Urlaub herum, ein wundervoller, köstlicher Urlaub mitten in der Kriegszeit bei Weib und Kind und als Mühlenbauer und ferne vom aufreibenden Dienst. Nun aber sollte er, feldmarschmäßig, wie er aus der Garnison gekommen war, direkt ins Feld fahren. Kein Wunder, daß dieser zweite Abschied doppelt schwer wurde.
Eines Oktobermorgens zog er nach Frankreich. Die schwangere Frau mit dem Kind auf dem Arme zur Seite und Eltern und Geschwister als Geleite, so ging der Soldat nach der Bahn.
Ein Röslein hatten sie ihm auf das Gewehr gesteckt. Aber als er eben in den Eisenbahnzug steigen wollte, brach, irgendwo angestoßen, die Blume ab. Er erschrak bis ins Innerste, beugte sich jäh zur Erde, hob die stiellos Gewordene auf und versuchte, sie mit zitternden Händen am Gewehrlauf wieder festzumachen. Aber nun zerblätterte sie erst recht. Da seufzte er hoch auf, setzte sich plötzlich müde nieder und schaute mit traurigem Auge nach dem Röschen. Kaum, daß seine Arme noch einmal seinen Angehörigen winken konnten. Seine Seele mußte zu viel nach dem zerpflückten Röslein hinhorchen und an den Tod denken und an das [S. 22] Nimmerwiedersehen, von dem es erzählte. Weswegen wäre es sonst gebrochen?
Zufällig fuhr ich ein Stück mit dem Scheidenden im selben Abteil. Da sah ich deutlich, daß ihn das Omen schauern ließ.

Kurz darauf ist ein anderer wirklich gefallen.
Das gab ein allgemeines Leid im Dorfe. Aber eigentlich war es keinem überraschend gekommen. Sie hatten es schon lange gewußt.
„Er hot zu sehr gewant, als er hot nausgehe misse," so sagten sie.
Tatsächlich hatten sie schon vor seinem Auszuge seinen Tod verkündigt: „De gäit fort wie aus de Welt — un kommt nimmer!"
Er kam nimmer.
Als ich das dem Kollegen aus der Nachbarschaft erzählte, fragte er mich unvermittelt:
„Läuten Sie noch?"
„Weshalb, meinen Sie?"
„Ja, sehen Sie! Wir haben geläutet zu jedem Sieg. Da ist ein einziger gefallen; und nun fürchten sie die Glocken. Wir haben auch geflaggt, wenn's an der Ordnung war. Da ist ein einziger gefallen. Nun verbergen sie die Fahnen."
Also gibt es auch Gemüter, denen sogar das frohe Läuten und die Freude der Fahnen zum bösen Omen wird.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg · Mainz · Frankfurt
Sachbegriffe: Müller · Mühlen · Reservisten · Einberufungen · Eisenbahn · gefallene · Totenläuten · Glockenläuten
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 4: Einberufungen und erste Gefallene aus dem Dorf“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-4> (aufgerufen am 23.04.2024)