Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 8: Abschiedsgottesdienst für die Lißberger Soldaten

[28-30] Glaube und Wahn.

Es hätte nicht erst der Kinder und ihrer schüchternen Bitte bedurft, um die Angepackten in das Gotteshaus zu bringen. Schon vorher haben die Leute selbst den Lehrer zu mir geschickt mit der Bitte, den Ausziehenden vor den Augen der Gemeinde das Abendmahl zu reichen und sie „einzusegnen". Ich bin von Herzen dazu bereit; und so geschieht es.
Aber es wird spät. Schon stehe ich im Ornat und zum Kirchgang gerüstet im Hoftor, da bitten sie mich, noch zu warten. Das Gemeinschaftsgefühl ist in dem Augenblicke, wo es sich in kirchlichen Formen äußern will, merkwürdig kräftig in ihnen. Ein Gestellungspflichtiger ist über Feld gefahren und noch nicht zu Hause. Wer kümmert sich sonst viel um solche alltäglichen Geschichten? Heute aber hemmt ihre Existenz das Leben einer ganzen Gemeinde. Sie will lieber insgesamt bis Mitternacht warten, als Einen der Gestellungspflichtigen vermissen.
Endlich, gegen zehn Uhr, läuten die Glocken...
Vor der Kirche erwarten mich die Männer. Sie haben sich zwei und zwei aufgestellt und bitten mich, sie vom Hauptportale aus durch das Schiff und die versammelte Gemeinde hindurch zu ihren Plätzen - heute gesondert vor dem Altäre - zu führen.
„Des hon aich seit meiner Konfirmation näit erlebt", flüstert einer.[S. 29]
„Un aich näit, seit als aich getraut sin", seufzt ein anderer zur Antwort.
So ziehen sie Vergleiche mit den seitherigen Höhepunkten ihres religiös-kirchlichen Lebens. Und daß sie heute von selbst die gleichen kirchlichen Äußerlichkeiten verlangen, die jene auszeichnen, offenbart fast allein die Tiefe ihrer heutigen religiösen Ergriffenheit. Denn was man sieht, ist eigentlich nur Schmerz und Weh.
Wir ziehen ein. Die Kirche ist aufs dichteste besetzt. Rauschend erhebt sich die Gemeinde und läßt uns schweigend und staunend — wie merkwürdig, daß da Männer, reife Männer, anstatt Konfirmanden hinter dem Pfarrer gehen — durch sich hindurchschreiten.
Auf den ersten Bänken, auf denen sonst die Kinder sitzen, nehmen die Krieger Platz. Darunter auch der Lehrer. Die Orgel wird von der Pfarrfrau gespielt: sie ist seit jener Zeit die Organistin.
Dann beginnen wir zu singen. Leise und wehmütig schwingt sich „Ach bleib mit Deiner Gnade..." durch den Raum. Unter den bebenden Fingern der Spielerin zittert die Orgel. Aber der Gesang ist stark wie ein erstes seufzendes Ausatmen nach langer Atemnot.
Das Nachspiel verstummt. Welch eine Stille schreitet durch den Raum! Kaum, daß die Kerzen auf den Bänken ein wenig zu flackern wagen. Sie ducken sich und halten ihre Strahlen verborgen, [S. 31] um sich nicht allzusehr in den feuchten Augen der Menschen spiegeln zu müssen. Nur manchmal will ein Lichtchen fast sterben vor Angst — wenn das Frauenherz hinter ihm zu brechen droht und sich nur durch ein lautes Schluchzen retten kann.
Indessen hallt es vom Altäre her vom Schild des Glaubens und dem Schwert des Geistes . . .


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Gottesdienste · Abendmahl · Gestellungspflichtige · Pfarrer · Pfarrfrauen · Orgelspiel
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 8: Abschiedsgottesdienst für die Lißberger Soldaten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-8> (aufgerufen am 29.03.2024)