Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 7: Warten auf den Mobilmachungsbefehl

[26-27] Und noch ein Tag beginnt, noch grausamer als jener. Denn unsere Nerven sind nicht mehr so fest, und die Einsamkeit ist noch gerade so groß.
Aber wiederum, den ganzen Tag über, kreisen unsere Gedanken — und nicht nur sie — um Dorfwirtschaft und Posthilfsstelle.
Endlich kommt das Telegramm.
Wir sind auf der Post, als es kommt. Es kommt als Kreistelegramm mit einem minutenlangen Ankündigungsgerassel. Ich kann nicht beschreiben, wie dieses Gerassel tut: wie ein einzig scharfer Schnitt fährt es durch die Seelen.
Der Wirt eilt aufgeregt an das Telephon. Er kann nicht antworten, als er den Kontrollruf hört. Nur einen heiseren Laut stößt er in den Apparat. Dann winkt er. Da gehen wir aus seinem Postzimmer hinüber in die Wirtsstube.
Und wir warten. Die Minuten werden Unendlichkeit. Der Wirt will lange nicht kommen. Wir wollen uns unterhalten; aber es geht nicht, ein Würgen drückt uns die Kehlen zu.
Dann lesen wir endlich den einfachen, aber eine neue Welt erschaffenden Satz: Mobilmachung befohlen, erster Mobilmachungstag: 2. August.
Wir sagen es den Menschen auf Straße und Feld.
Hängenden Kopfes, tränenden Auges, ganz müde auf einmal schreiten sie hinauf ins Dorf. [S. 27]

Unsagbar stille wird das Dörfchen. Kaum, daß sich noch einer getraut, mit der Mähmaschine durch den Ort zu fahren. In kleinen Gruppen stehen die Männer auf der Straße und flüstern; mit Frau und Kind sitzen sie in der dämmernden Stube und schweigen.
Wo sich die Dorfstraßen kreuzen, versammeln sich die Burschen. Sie können doch nichts mehr arbeiten an diesem Tage, vielleicht für lange Zeit nicht, vielleicht ist's überhaupt zu Ende. Aber das denken sie nur; das sagen sie nicht. Denn sie stehen beisammen und sehen sich nur erschrocken an ohne einen Laut.
Plötzlich ein häßlicher Schellenton! Er paßt so gar nicht in die wunderliche Stille über dem Dorfe. Fast feindselig hastet er durch die Straßen. Es ist der Polizeidiener mit der Ortsglocke. Man merkt dem Manne an, daß er sich wie ein Unglücksbote vorkommt. Nur ganz kurz schellt er, als könne er es selber nicht hören; furchtbar undeutlich spricht er, da ihm die aufgeregten Nerven versagen.
Aber hinter ihm drein gehen wie Friedensboten ein paar Schulkinder. Sie bitten die Gemeinde in die Kirche.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Post · Telegramme · Mobilmachung · Augusterlebnis · Polizeidiener · Ortsglocke
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 7: Warten auf den Mobilmachungsbefehl“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-7> (aufgerufen am 25.04.2024)