Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 6: Wehmütiges Erwarten des Abschieds aus dem Dorf

[24-25] Dann kamen die jungen Burschen des Dorfes. Auch sie hielten es nun doch nicht mehr in der Einsamkeit ihrer Ställe und Felder aus. Sie [S. 25] hatten alle ihr ganz gleiches und gemeinsames Interesse an der möglichen Mobilisierung entdeckt.
Bis spät in die Nacht sitzen sie mit uns wartend am Tische, uns dreien zur Seite. Aber sie sind des Abends im Wirtshaus nicht anders als des Mittags zu Hause oder auf dem Acker: stille und ernst, ohne Reden, sogar ohne Worte,- nur noch mit ein klein wenig mehr Feierlichkeit in ihrem Benehmen.
Sie glauben begeistert zu sein, und sind es auch. Aber sie sind es auf ihre besondere Art. Ihre Begeisterung ist Wehmut.
Allmählich fangen sie an zu singen. Aber nicht ein einziges Mal singen sie die „Wacht am Rhein" oder „Deutschland, Deutschland über alles". Sie singen: „Im schönsten Wiesengrunde . . .". „Dir, mein stilles Tal, Gruß zum letztenmal . . ."
Leise verhallt's. Dann ist's wieder stille. Die Augen schimmern.
Nein, der Krieg ist hierzulande nicht laut. Er ist grausam einsilbig. Man denkt nicht, was er für die Welt bedeute. Aber man denkt an seine Äcker, seine Wiesen, sein weißes Häuschen, sein Heimattal. Und denkt, daß man dafür sterben müsse.
So hocken wir zusammen bis spät nach Mitternacht.
Aber das Telegramm kommt nicht.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Augusterlebnis · Nationalhymnen · Wacht am Rhein · Telegramme
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 6: Wehmütiges Erwarten des Abschieds aus dem Dorf“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-6> (aufgerufen am 29.03.2024)