Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 11: Unwirksamkeit des alten Himmelsbriefs

[34-36] Hier ist ganz sicherlich Verschiedenes durcheinander geraten und im Laufe der Zeit falsch abgeschrieben worden, bis schließlich der unsinnige Wortlaut herausgekommen ist. Und wir müssen doch schon sehr den Kopf schütteln, wenn wir uns vorstellen, daß unsere deutschen Soldaten solch ein Machwerk zum Tröster machen. Oder sich machen lassen. Denn die Weiber sind's — ob „fromm" [S. 35] oder „ungläubig" —, die den Brief mit heißen Köpfen abschreiben. Aber auch der tapferste Gegner dieses Briefes ist in meinem Dorfe eine Frau: eine Frau mit einem feinen Verständnis evangelischen Glaubens, das mich schon oft erstaunt hat. Doch die Soldaten sind fast alle hinausgezogen und ziehen wohl heute noch hinaus mit diesem Brief auf dem bloßen Herzen. —

Der Krieg selbst hält die gewaltigste Predigt über den Wert solchen Aberglaubens. Bereits der erste, der den Himmelsbrief mit hinausgenommen, ist gefallen. Darob eine große Erschütterung des Zutrauens zu dem Papier auf dem Herzen. Aber auch eine merkwürdige Ausrede seiner Apostel; sie sagen: Der Brief hilft nur dem, der daran glaubt; ist der junge Bursche gefallen, so hat er nicht daran geglaubt. Es ist doch interessant, wie sich auch hier der Teufel mit der Pracht des Engels schmücken will, indem er es mit dem Vertrauen als dem allein mächtigen Faktor des Glaubens auch einmal für seinen Aberglauben versucht. Aber wie verkehrt macht er es wieder, indem er dieses Vertrauen nur als ein nicht seiendes zu würdigen vermag und nur damit seine eigene Plumpheit grinsend entschuldigt. Das ist die Grausamkeit des Aberglaubens. Ich habe sie niemals mehr verspürt als an jenem Tage, da ich der Mutter des Verbrieften und doch Gefallenen die Todesnachricht zu bringen hatte. [S. 36]

Ich habe in meinem Dorfe beobachtet, daß der Aberglaube da am mächtigsten ist, wo die Selbstsucht am größten. Nicht immer soll der Himmelsbrief den Mann schützen. Ich könnte von einem Falle erzählen, wo er eine neueröffnete Wirtschaft, für 75 Mark Zigaretten und für 300 Mark Schnaps schützen sollte. Der Versicherte kommt nicht wieder; die Wirtschaft kann nicht weitergeführt werden; am meisten werden darum die 375 angelegten Mark bejammert. O, du grausamer Himmelsbrief!


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Aberglaube · Himmelsbriefe
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 11: Unwirksamkeit des alten Himmelsbriefs“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-11> (aufgerufen am 28.04.2024)