Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 12: Kriegsandachten und Wochenbetstunden

[36-38] Aber wir wollen doch den Himmelsbrief und seinem Wahne nicht das letzte Wort lassen. Das letzte Wort habe vielmehr unsere Sonntagsabendkriegsandacht, die wir, ausgenommen die Sommer-monate, neben unserer Wochenbetstunde miteinander begehen.
Unser Kirchlein ist über den letzten Platz hinaus besetzt; die Männer oben auf der Bühne, die Frauen unten im Schiff, die Kinder „stimmig" gesetzt vor dem Altäre. Alles, wie sich's gebührt. Es herrscht Halbdunkel im Raum. Denn wir haben, wie keine Kirchenheizung, so auch keine Kirchenbeleuchtung. Unsere Mittel reichen mit Mühe zur Erhellung meines Stuhles, des Altars, der Orgel und Kanzel. Da bringen die Besucher die Kerzen selber mit; ein jeder die seine vom Nachttisch zu Haus. Das ist primitiv, aber sehr traulich . . . [S. 37]
Die Gemeinde schweigt und die Kinder singen einen zweistimmigen Chor: „Wer ist ein Mann?" Das hören die Erwachsenen gerne. Noch lieber hören sie: „Wie mit grimm'gem Unverstand" mit seinem letzten Verse: „Einst in meiner letzten Not . . Am allerliebsten jedoch ist ihnen: „Harre meine Seele . . ." Das können sie immer und immer wieder singen; es muß für sie ein merkwürdig reicher Trost von diesem Liede und seiner Melodie ausgehen.
Nach den Kindern redet der Pfarrer. Aber er hält keine Ansprache. Von Gemeindegesängen unterbrochen, liest er zuerst aus der Bibel Alten und Neuen Testamentes vor. Die Worte sind bekannt; doch hört man immerhin zu. Aber nachher erst kommt das Aufmerken. Die Frauen legen die Taschentücher besonders, die Männer erheben sich und beugen sich vor. Denn nun kommt die Hauptsache, um deretwillen sie einen Sonntagabend nur ungern versäumen: in fortwährender Folge während jeder Andacht anstatt Ansprache ein Stück aus Arndts Katechismus oder dergleichen. Die kräftige Sprache hat es ihnen angetan. Sie könnten stundenlang zuhören, wie sich hier ihre eigenen Gefühle ausdrücken.
Nach dreiviertel Stunden ist die Andacht vorbei. Sie gehen nach Hause. Die Alten schauen nach dem Himmel und blicken noch einmal in den Stall; lesen in Schians1 oder Wursters2 Kriegsandachten [S. 38] und trösten sich aus dem Gesangbuchs. Die Jungen eilen noch einmal zur Post: ihre Phantasie bringt den Alten Riesenerfolge nach Hause; aber ihre harte Stimme schweigt auch nicht von den neuen Verlusten der Gemeinde. Da sehnen sie sich alle, Alte und Junge, nach dem Frieden.
Wenn's aber ganz spät geworden ist, schleicht sich bisweilen ein Verschlossener zum Pfarrer. Er bringt heimlich ein Opfer. Denn er will's nicht auf die Liste schreiben.


  1. Martin Schian (1869-1944), evangelischer Theologe und Professor.
  2. D. Paul Wurster, evangelischer Theologe und Professor. Siehe zu ihm das Trostbüchlein für die Trauer um die fürs Vaterland Gefallenen.

Personen: Herpel, Otto · Schian, Martin · Wurster, Paul
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Kriegsandachten · Wochenbetstunden
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 12: Kriegsandachten und Wochenbetstunden“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-12> (aufgerufen am 28.04.2024)