Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 13: Abschiednehmen der Soldaten von der Gemeinde

[39-41] Das große Leid.

[…] Der Schatten [des Krieges] hat verschiedene Namen: Angst und Furcht, Wunde und Tod, Lassen und Scheiden - immer aber ist er der Eine: das große Leid.
Das Abschiednehmen der Dorfgemeinde, das ist das große Leid auf dem Hügel. Es ist erdrückend.
Aber ich meine nicht den Abschied der einzelnen voneinander. Schwerer ist der Abschied der einzelnen vom Ganzen.

Der Bahnhof liegt unten im Tälchen, mitten im Wiesengrunde. Links und rechts nach den Bergen ziehen sich die Felder. Und blickt man gegen Norden — von der Hand seines ruinengekrönten Hügels mitten im Tal, ganz in der Nähe, grüßt mit seinem weißen Fachwerk das Dorf. So muß der Scheidende [S. 40] mit seinem letzten Blick noch einmal alles umfassen, was ihm teuer ist: seine eigenen Felder, sein Häuslein, das Dorf — alles beieinander. Eins aber macht seinen letzten Blick noch besonders traurig. Da draußen wogt reif und schwer des Bauersmanns Ernte. Und es ist ihm, als singe das Korn ein leises, aber inniges Lied von der Heimat, ein Lied, das sich wie Banden um seine Seele legt und ihn gefangen hält, ein Lied, das wie eine Sorge klingt. Wie sehr hatte er sich auf diese Ernte gefreut: im Herbst vorher schon gesät, im kalten Winter sehr besorgt, schon tausendmal errechnet und beschaut — sie sollte ihm ein Fest werden. Schon hatte er die Sense gedengelt, schon die Seile gemacht. Aber wer soll die Halme schneiden und wer wird die Garben binden?

Der Krieger fährt sich mit der Hand über die Augen: „Meine schöne Ernte. . .". So muß dem Menschen vom Lande der Abschied unendlich viel-, vielmal weher tun als dem Sohne der Stadt, der zuletzt nur noch eine Bahnhofshalle, Hotels und frostige Mietskasernen zu sehen vermag. — Aber da ist noch das große Andere, was den Abschied ungleich härter macht. Jeder einzelne wird von allen zur Bahn gebracht. Da ist keiner, der fehlt: zwischen Greis und Kindlein geben alle das Geleit. Denn keiner will sich die Verleugnung der Dorfgenossenschaft, die größte Sünde dieser Tage, auf die [S. 41] Seele laden. So kommen sie alle zum Abschied.

Und alle kennt der Scheidende. Für ihn ist keiner ein Fremder. Jeder meint es gut mit ihm, drückt ihm die Hand und weint ihm eine letztempfundene Träne. Keine unbekannten Gesichter, vor denen er sich etwas Besonderes fühlen könnte, starren ihn an. Kein Geschrei ermutigt ihn zu einem lauten Hoch fürs Vaterland. Die da um ihn stehen, sind stumm und bitter ernst; alle mit der Miene und dem Glauben, daß sie als Ganzes soeben ein lebendiges Opfer bringen.
Abschiede gibt es auch in der Stadt. Wie anders sind sie bei uns. Bei uns gehen die Männer nur einzeln fort. Bei uns treffen sich immer nur vereinzelte Schicksalsgenossen in den Abteilen der Nebenbahn. Die Masse erschwert vieles; aber selbst ihrem Verächter erleichtert sie das Schwerste. Dem Dorfkinde erleichtert sie nichts; denn es kennt die große Masse nicht.
So zeichnet der Abschied die Gesichter der scheidenden Männer mit fließenden Tränen. Sie weinen fast alle und ohne Scheu. Sie sind nicht weniger stark als andere Männer, die nicht vom Hügel stammen. Aber hier ist nichts, was ihnen auch äußerlich über den ersten großen Berg ihres Leides hinweghelfe. Darum quillt ihr Herz über von einem furchtbaren Heimweh, schon ehe sie draußen sind. Und das ist ihr größtes Leid.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 13: Abschiednehmen der Soldaten von der Gemeinde“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-13> (aufgerufen am 28.04.2024)