Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 15: Kriegsfurcht in Lißberg

[46-48] Von Fiebern und Wachen.

Auf den Krieg mit Rußland haben uns vierzehn schwere Tage vorbereitet. Darum kann, als er endlich kommt, die furchtbare Wirklichkeit unseren Landleuten nur insofern wehe tun, als sie zugleich die Mobilmachung und das große Leid des Scheidens bringt. Daß Deutschland nicht über Rußland siegen soll, ist auch dem einfachsten Hirne ein unfaßlicher Gedanke. Einer will auf der Landkarte bedenkliche Vergleiche anstellen — er wird ausgelacht.

Allein, bald kommt die Gewißheit hinzu, daß wir es auch mit Frankreich aufnehmen müssen. Viele aus dem Dorfe sind Soldaten gewesen und wissen einen Krieg nach zwei entgegengesetzten Fronten nach seinen Schwierigkeiten einzuschätzen. So stecken sie, als die Nachricht eintrifft, die Hände in die Taschen, ziehen die Schultern ein und sagen zueinander: „'s git e bees Stick!"

Und schließlich England! Es ist gegen Abend, da saust das wohlbekannte Fabriksauto aus dem Nachbardorfe in den Ort. Am Wegekreuz hält es. Ein Mann springt heraus und ruft den erschrockenen Leuten zu, England habe uns den Krieg erklärt, und in Frankfurt sei es angeschlagen.

Rasch fährt das Auto weiter. Aber die Menschen stehen wie erstarrt: England, das große, reiche, mächtige England! Das Land ohne Ende, furchtbar [S. 47] durch Geld und durch Flotte! Und jetzt kommt wirklich die Angst über sie. Hie und da sucht einer zu beruhigen. Aber seine Überlegungen bleiben ohne Eindruck. Bald findet sich das Dorf — soweit es zu Hause ist — stumm und flüsternd, ängstlich und bedrückt zusammen . . .

Da kommt der Postwirt. Auf seinem Wagen stehend fährt er ins Feld. Er kommt aus dem Unterdorfe und weiß schon um die neue Nachricht. Als er das Fähnlein der Erschrockenen sieht, sagt er zu sich selber nur ein „Hm!" Er ist kurz von Statur, aber stämmig und beleibt. Fest stellt er sich auf seinen Wagen, zieht die Mütze ins Gesicht, steckt noch schnell eine Zigarre an und macht die herausforderndste Miene von der Welt. So fährt er in das Häuflein hinein.

„Wos git's do?" ruft er mit herrischer Stimme.
Die Bedrückten antworten.
„Und do hätt'r Angst!?"
„Jo! Ei no . . ."
Sie kommen schön an: „Des mecht doch nix!"
„Reinhard, nemm Vernunft a! Aich man . . ."
Aber nun schallt es mit Donnerstimme vom Kleewagen: „Sei still, Heinrich, mit dem, wos Dau manst! Aich man, die Englänner ... die Englänner ... die krieje ganz afach a ihr Äppel!"
Spricht's und seine Rechte holt mit der Peitsche weit aus. Die Gerte saust durch die Luft, und so [S. 48] knallt er lachend über den Köpfen der Leute: ganz afach a ihr Appel!
Da ist der Bann gebrochen. Sie lachen mit, und plötzlich fürchtet sich keiner mehr vor England.
So hat sich des Dorfes Seele selbst geholfen.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg · Frankfurt · Rußland · Frankreich · England
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 15: Kriegsfurcht in Lißberg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-15> (aufgerufen am 27.04.2024)