Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921

Abschnitt 29: Erleichterungen durch Friedensschluss, Vergnügungen

[52-53] Friede! Es gab niemand, der nicht aufatmete beim Klang dieses Wortes. Rund fünf Jahre hatte der Kriegszustand gewährt. Jedermann glaubte, daß nun bald wieder bessere Zeiten kommen würden. In der Tat traten auch einige Erleichterungen ein. Die Paßbeschaffung wurde vereinfacht. Langentbehrte Lebensmittel strömten in Menge aus dem besetzten Gebiete herein. Bald führten jedoch die Feinde eine scharfe Ueberwachung durch, und der Zustrom ließ nach. Die Hoffnung auf eine durchgreifende Besserung der Verhältnisse erfüllte sich nicht. Mit der fortschreitenden Entwertung des Geldes stiegen die Preise vielmehr von Woche zu Woche und erreichten allmählich eine nie geahnte Höhe. Die Löhne mußten sich ihnen anpassen. Das ging nicht ohne Reibungen ab. Allerorten streikte man. Auch hier kam es zu einem Streik. Um den Arbeitslosen Beschäftigung zu geben, ließ die Stadt Notstandsarbeiten ausführen. Eines Tages zog ein Trupp von 80 Mann mit Schippe und Hacke vor das Rathaus, wo ein kurzfristiges Ultimatum gestellt und schleunigst bewilligt wurde.

Zu der traurigen Zeit stand die Vergnügungssucht weiter Kreise unseres Volkes in einem krassen Gegensatz. Schon beim Rückmarsch der Fronttruppen ging die Tanzwut los, und fortan verging kaum ein Sonntag, ja mancherorts kaum ein Tag, an dem nicht getanzt wurde. Der preußische Minister des Innern richtete am 14. März 1919 einen Erlaß gegen die überhandnehmenden Tanzbelustigungen, der Bischof von Limburg redete in einem Hirtenbrief vom 18. Mai mit markigen Worten der vergnügungstollen Jugend ins Gewissen, fast die ganze Presse nahm gegen den Unfug Stellung. Aber alles half wenig. Vergessen waren die Gefallenen, die in fremder Erde ruhten, vergessen die Gefangenen, die fern der Heimat schmachten mußten, vergessen die Verwundeten, die in Schmerzen sich auf ihrem Lager wanden. Man tanzte und amüsierte sich. Es soll gerechterweise nicht verkannt werden, daß ein tiefes Bedürfnis nach den infolge des Krieges so lang entbehrten Freuden des Lebens vorlag. Aber die Auswüchse waren zu groß und widersprachen dem gesunden [S. 53] sittlichen Empfinden der weit überwiegenden Mehrheit unseres Volkes. Lobend muß es den Vereinen unserer Stadt nachgesagt werden, daß sie mit ihren Festlichkeiten bis zum zweiten Winter nach dem Kriege warteten.

Im Winter 19/20 war infolge der Lieferungen an die Feinde und der fortwährenden Streiks die Kohlennot größer als je zuvor. Das Unglück wollte es, daß schon auf Allerheiligen ein heftiger Winter einsetzte. Dunkel lag die Zukunft vor uns.


Empfohlene Zitierweise: „Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921, Abschnitt 29: Erleichterungen durch Friedensschluss, Vergnügungen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/34-29> (aufgerufen am 29.04.2024)