Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921

Abschnitt 20: Abnahme der Glocken in Camberg

[36-38] Von allen Beschlagnahmungen traf uns kaum eine härter als die der Glocken. Als am 1. März in den Zeitungen stand, daß sie freiwillig oder zwangsweise abzuliefern seien, da schüttelten viele den Kopf und sagten: „Jetzt ist's vorbei; wir verlieren den Krieg." Die gleiche Verordnung bestimmte, daß auch alle gebrauchten und ungebrauchten Gegenstände aus Aluminium, alle Spinnstoffe aus Wolle, Baumwolle, Flachs, Hanf, Jute und Seide u. a. m. der Beschlagahme verfielen. Das nahm man hin. 'Aber die Glocken! Wer hätte das gedacht, das; auch sie ein Opfer des Krieges würden, daß sie, die sanften Boten des Friedens, mithelfen sollten, Tod und Verderben zu streuen! Es hieß, daß sie am Montag, den 11. Juni, ihren Auszug antreten und den Abend vorher in feierlichem einstündigen Geläute Abschied nehmen würden. Ein milder stiller Sonntagsabend war's. Viele zogen auf die umliegenden Höhen hinaus und lauschten. Aber die Glocken läuteten heute nicht zum letzten Male. Ihre Abnahme verzögerte sich; man hoffte sogar, sie zu behalten. Die Freude währte nicht lange. Am Sonntag, den 9. September, luden sie uns noch einmal zur Kriegsandacht. Ihren reinen Klang werden wir nie vergessen. Wie fröhlich feierlich läuteten sie nach schwerer Werktagsarbeit den lieben Sonntag ein! Wie traurig gaben sie unseren teueren Verstorbenen das letzte Geleite! Sie riefen uns Tag für Tag zur ernsten Arbeit wie zur erquickenden Ruhe. Als am Mittwoch, dem 12. September um 2 Uhr mittags, die Glocken der katholischen Pfarrkirche heruntergeholt waren, da schmückten die Mädchen sie mit Kränzen. Man fuhr sie durch eine Reihe von Straßen, damit jeder sie noch einmal sehen könne, zur Bahn. Es war ein trauriges Bild. Manches Auge wurde naß. Die eine Glocke, die zurückbleiben durfte, sang den scheidenden Schwestern ihren Abschiedsgruß.

Zwei Tage später machten sich, mit Blumen bekränzt, auch die Glocken der evangelischen Pfarrkirche ans die Reise. Pfarrer Kaiser legte seiner Ansprache die drei Glockeninschriften zu Grunde: „Seid fröhlich in Hoffnung", „Seid geduldig in Trübsal", „Haltet am Gebet". Auch die evangelische Kirche durfte eine Glocke, die der Großherzog von Luxemburg ihr geschenkt hatte, zurückbehalten.


Empfohlene Zitierweise: „Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921, Abschnitt 20: Abnahme der Glocken in Camberg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/34-20> (aufgerufen am 29.04.2024)