Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Klaus Wiedemann, Der Erste Weltkrieg aus der Sicht eines Kasseler Oberschülers, 1914-1918

Abschnitt 1: Erlebnisse in den ersten Mobilmachungstagen

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Meine Erlebnisse in den ersten Mobilmachungstagen

Am 28. Juli 19141 wurde in unserem Ort die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers von Österreich bekannt. Langsam ahnte man nun schon, daß vielleicht ein Krieg zwischen Österreich und Serbien ausbrechen würde; denn Österreich konnte sich diese Schandtat nicht gefallen lassen und mußte sich an Serbien rächen. Da nun aber Rußland auf der Seite der Serben stand, sahen wir uns gezwungen, auch als Bundesgenossen unseren Österreichern zu helfen. Österreich erklärte nun Serbien den Krieg. Da nun die Serben Rußland zur Hilfe heranzogen, mußte nun auch Deutschland sich in der Krieg verwickeln. Unser Kaiser versuchte zwar noch, sich vom Kriege fern zu halten, doch er wurde gezwungen zum Schwerte zu greifen. Schon am 1. August kam in unseren Ort die Mobilmachung für das deutsche Heer und Flotte. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in unserer Stadt. Wo man ging hörte man vom Krieg. [S. 4]

An den Anschlagsäulen und an der Post hatten sich große Menschenmassen angesammelt, die den Mobilmachungsbefehl lasen. Da konnte man Militärpflichtige, alte Männer, die schon einen Krieg mitgemacht hatten, aktive Soldaten, ja sogar Frauen, die daran dachten, daß sie vielleicht schon in den nächsten Tagen von ihren Männern scheiden müßten [sehen]. Als ich noch an demselben Abend an der Artelleriekaserne vorbei kam, merkte ich auch hier, daß es nicht so war wie sonst. Die Soldaten standen mit ihren oder auch Verliebten auf der Straße und unterhielten sich; denn kein Soldat durfte die Kaserne verlassen. Viele meinten nun, sie müßten gleich ins Feld ausrücken. Doch eine Batterie war schon vollständig zum Abmarsch bereit. Auch die Mobilmachung hatte auf die Schule Einfluß; denn sämtliche Schulen in Deutschland hatten 8 Tage länger Ferien. Auch waren in den ersten Mobilmachungstagen jeden Abend Kriegsgottesdienste. Diese waren immer sehr stark besetzt, sodaß kein Platz mehr in der Kirche war.


  1. Hier liegt offensichtlich ein Irrtum vor. Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau wurden am 28. Juni 1914 in Sarajewo ermordet.

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Personen: Franz Ferdinand, Österreich, Erzherzog · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser · Wiedemann, Klaus
Orte: Sarajevo · Österreich · Serbien · Russland
Sachbegriffe: Attentat von Sarajevo · Julikrise 1914 · Mobilmachung · Anschlagsäulen · Artillerie · Kasernen · Schulferien · Kriegsgottesdienste
Empfohlene Zitierweise: „Klaus Wiedemann, Der Erste Weltkrieg aus der Sicht eines Kasseler Oberschülers, 1914-1918, Abschnitt 1: Erlebnisse in den ersten Mobilmachungstagen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/13-1> (aufgerufen am 28.03.2024)