Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916

Abschnitt 4: Abschiedsgottesdienst und Abreise der Reservisten

[Sp. 232-233]
Der Sonntag bricht heran. Kaum erwacht, kommt es uns aufs neue zum Bewußtsein: es gibt Krieg. Man erhebt sich, geht umher wie in einem bösen Traum. Es ist, als könnten wir es nicht fassen, das Ungeheure, das Entsetzliche, das nun im Begriff ist, zur Tatsache zu werden, Krieg! – Niemand kann den ganzen Umfang des Begriffs ermessen, der sich hinter dem grauenhaften Worte birgt. Das heutige Geschlecht kennt ja den Krieg nur vom Hörensagen, darum hält es schwer, sich vorahnend ein Bild der kommenden Dinge zu machen. Doch es heißt sich in die Lage schicken, sich in das Unabänderliche fügen. Ernster und feierlicher wie sonst rufen die ehernen Stimmen zum Gotteshause. Wie 1813, als unsterbliche Freiheitsdichter das Volk aus kalter Gleich­giltigkeit zum alten, starken Glauben zurückführten, so weiht auch diesmal die Kirche ihre heilsamen Kräfte der großen Zeit. Viele, viele Hunderte folgen dem Rufe der Glocken, die Kirche ist von Andächtigen überfüllt. Es dürstet sie nach einem tröstenden und aufmunternden Worte des Geistlichen und nach einem erhebenden Gesange. Feuchten Auges verlassen Viele das Gotteshaus; was sie gesucht, haben sie gefunden. Von dem Lenker aller Geschicke ging ein großer und ver­söhnender Friede aus, eine Stählung der Hoffnung und des Vertrauens und eine tiefe Ergebenheit.

. . . Und nun beginnen die Vorbereitungen zur Abreise, die Reservisten packen ihre sieben Sachen. Viele müssen sich schon am Sonntag, dem ersten Mobilmachungstage, in Marburg stellen und so fahren denn Zug um Zug junge Vaterlandsverteidiger ab, von den Ihrigen begleitet, die in der Trennungsstunde – so scheint es uns – mit dem einen Auge weinen, mit dem anderen aber lachen. Der Abschied ist schwer, daß läßt sich begreifen, aber die Begeisterung ist zu groß, als daß das Trennungsweh nicht in den Hintergrund gedrängt werden müßte. Jetzt heißt es, aus Herz und Geist alle lähmenden Empfindungen entfernen, an die Stelle der Trauer im Haus und Heim, um Weib und Kind muß die Sorge um Ehre und Glück und um das ganze Dasein des deutschen Vater­landes treten. Die Züge bringen schon viele Reservisten „von oben", die, in den Fenstern liegend und die Hüte schwenkend, frohe Vaterlandlieder singen. Die Eisenbahnwagen sind mit ulkigen Kreidebildern bemalt, mit Versen und Skizzen von so überwältigender Komik, daß man kaum noch ernst bleiben kann. Selbst der Bahnhofsvorsteher kann es nicht, der mit der roten Mütze gelassen zusteht, wie während des Aufenthalts hinausziehende Krieger ihrem Mutterwitze durch Hinzufügung immer neuer Kreidegemälde und spassiger Verse aus dem königlich preußischen Eisenbahnwagen Ausdruck geben. Als aber Apotheker Ruhl, der gleichfalls als Leutnant der Reserve zur Fahne eilt, kurz vor der Abfahrt des mittäglichen Sonntagszuges aus den, Fenster des Abteils heraus das Hurra auf unsern Kaiser ausbringt, da ist des Jubels kein Ende und wieder gibt es Tücherschwenken und herzliche Abschiedsrufe, bis die Wagen den Augen der Zurückbleibenden ent­schwunden sind, Zug um Zug entführen am Sonntag die treuen Vaterlandsverteidiger und auch am nächsten Tage ver­lassen zahlreiche Reservisten das Städtchen. Jedermann aber gewinnt den Eindruck, dass sie Alle echter deutscher Soldaten­mut beseelt, der zu den zuversichtlichsten Hoffnungen auf einen siegreichen Ausgang des Krieges berechtigt. Auch von lieb­gewordenen Pferden muß sich Mancher trennen; schon am Montag früh sind die kriegsbrauchbaren auf dem Seewasen ausgehoben und fortgeschafft. Wie manche stille Träne mag auch ihnen nachgeweint worden sein! Von ihrem Lose wird der treue Herr, der es hergeben mußte, niemals etwas erfahren.


Personen: Spieß, Karl
Orte: Biedenkopf · Marburg
Sachbegriffe: Gottesdienste · Reservisten · Zugverkehr · Pferde · Mobilmachung · Patriotismus
Empfohlene Zitierweise: „Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916, Abschnitt 4: Abschiedsgottesdienst und Abreise der Reservisten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/1-4> (aufgerufen am 19.04.2024)