Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916

Abschnitt 1: Mobilmachung 1914 und Kriegsbeginn von 1870

[Sp. 229-230] Karg und unvollkommen nur sind die Aufzeichnungen, in denen sich die ersten Eindrücke widerspiegeln, welche die Mobilmachung des Jahres 1870 in unserer Stadt hervorgerufen hat. Eine Fülle allgemeiner Erinnerungen aus jenen Julitagen zwar steht uns in allen Geschichtswerken zur Verfügung; doch nur die Veteranen jenes großen Kriegsjahres sind in der Lage, uns eine Schilderung der Begeisterung zu geben, die der Kriegsruf zu damaliger Zeit in unserer engeren Heimat ausgelöst hat, nur nach den mündlichen Erzählungen unserer wackeren Feldzugsteilnehmer vermögen mir uns ein knappes Bild von den bewegten Tagen zu formen, die jener Mobilmachung vorangingen und folgten. Während die [Sp. 230] Berichterstattung unseres einheimischen Blättchens sich damals auf die Wiedergabe der Nachrichten beschränkte, die von den Schlachtfeldern herüberkamen, kann man sich an der Hand dieser Zeitungsberichte in den patriotischen Geist, der die Bürger unseres Städtchens beseelte, nicht versetzen, noch weniger aber sich einen Begriff von den unmittelbaren Schäden machen, die der Ausbruch des Krieges auf die wirtschaftliche Lage, auf Verkehr- und sonstige Verhältnisse unserer Heimat ausgeübt hat.

Sollte es daher nicht der Mühe wert sein, unter dem ungetrübten Eindruck der Ereignisse die Stimmung festzuhalten, welche die politischen und kriegerischen Begebenheiten dieses Jahres in unserer Bürgerschaft hervorgerufen und die unmittelbaren Wirkungen zu schildern, die der beginnende Feldzug auf Handel und Wandel in unserer Kreisstadt ausgeübt hat? Im Frieden erscheint uns vieles so natürlich, so selbstverständlich, man kommt gar nicht auf den Gedanken, daß dieses scheinbar so selbstverständliche nur in eben jenem Frieden seine Ursache findet und wir vermögen uns nicht vorzustellen, daß der Krieg mit einem Schlage allen Regeln ein Ende bereitet, daß er Pläne und Berechnungen ebenso schnell über den Haufen wirft. Erst wer, wie wir, den schroffen Uebergang vom Frieden zum Kriege erlebt hat, wird zugeben, wie glücklich doch das Volk zu preisen ist, dem die Segnungen des Friedens beschieden sind und wird es verständlich und am Platze finden, wenn es bei jeder sich bietenden Gelegenheit Huldigungen und Dank einem Herrscher darbringt, dessen Sorgen und Streben unablässig auf die Erhaltung des Friedens gerichtet sind. Allen Sorgen unseres Kaisers zum Trotz hat dieser Krieg nicht vermieden werden können; wie der Dieb in der Nacht ist er über uns gekommen; das deutsche Volk muß ihn führen und es wird ihn führen mit einer Begeisterung, die ihres gleichen sucht. Nicht nur in den Großstädten verschafft sie sich Geltung, nein auch in unserer abseits der großen Heerstraße gelegenen Kleinstadt ist sie zum Durchbruch gekommen, so laut und so mächtig, wie es nur zu denken ist. Die verflossenen Tage und Wochen haben gezeigt, daß auch im Herzen der Biedenköpfer treue Vaterlandsliebe steckt und daß Parteienhaß und – Hader schwinden, wenn es gilt, für das Wohl des Vaterlandes einzutreten. So ist es deutsche Art und auch uns ist sie eigen.


Personen: Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser · Spieß, Karl
Orte: Biedenkopf
Sachbegriffe: Veteranen · Deutsch-Französischer Krieg 1870-1871 · Mobilmachung
Empfohlene Zitierweise: „Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916, Abschnitt 1: Mobilmachung 1914 und Kriegsbeginn von 1870“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/1-1> (aufgerufen am 29.04.2024)