Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916

Abschnitt 2: Warten auf Bekanntgabe der Mobilmachung in Biedenkopf

[Sp. 230-231] Mit gespannter Aufmerksamkeit war die Bürgerschaft Biedenkopfs den Ereignissen gefolgt, die sich in den Juni- und Julitagen auf politischem Gebiete abspielten. Von dem Augenblicke an, da die Kunde des aus wilder Verbrecherleidenschaft eines tollkühnen Serben hervorgegangenen Mordes in Sarajewo die Welt in Bestürzung versetzte, begann der Biedenköpfer in verschärftem Maße zu staatsklügeln und überall gewahrte man ein steigendes Verständnis für die Ereignisse, die sich auf dem Welttheater abzuspielen begannen. Jedem Schulkinde wurde es allmählich klar, daß das Schicksal Europas von den Schritten abhängig war, die unser verbündetes Oesterreich gegen Serbien unternehmen würde. Als aber der Juli sich seinem Ende neigte, stieg die Spannung aufs fieberhafte. Während bis dahin die Wogen der Begeisterung für das im August geplante Grenzgangsfest so hoch wie möglich gegangen waren, richtete sich nun die Aufmerksamkeit mehr und mehr auf die Nachrichten, die von [Sp. 231] Osten zu uns herüber drangen und als die Sonne des letzten Julitages hinter unseren Bergen und Wäldern verschwand, hatten wir uns mit der Tatsache abzufinden, daß der „Zustand drohender Kriegsgefahr“ über unser deutsches Vaterland hereingebrochen war. Ja, man hatte für diesen Tag schon mit der Mobilmachung gerechnet und ungezählte Menschen durchwanderten am Spätnachmittage die Bahnhofstraße, die Augen nach dem oberen Stockwerke des Postgebäudes richtend, von wo mit jedem Augenblicke einer der den Telegraph bedienenden Beamten die schreckliche und doch erlösende Botschaft des Mobilmachungsbefehls verkünden mußte. Heute kommen die Neugierigen nicht auf ihre Rechnung, das Telegramm aus Berlin bleibt aus, aber sie sehen Koffer und Schließkörbe in großen Haufen, das Reisegepäck der letzten Kurgäste, die noch vor Eintritt des kritischen Augenblicks die Heimat erreichen wollen. Scharenweise rücken sie aus, grade jetzt, wo es draußen in der Natur, in unseren weitbegrenzten Wäldern so wunderschön ist. Sie fahren dahin und die Gasthofsbesitzer sehen ihnen niedergeschlagen und traurig nach. Ihre Häuser sind leer, das Personal hat entlassen werden müssen und der beste Monat, der vor der Türe steht, wird den rührigen Kurhauswirten keine Einnahmen bringen. Wie wird sich der Mangel an Sommergästen fühlbar machen in den Lebensmittelgeschäften ! Die nächsten Wochen schon werden's lehren.

Erst zu später Abendstunde trennen sich die Gruppen, um sich am folgenden Samstag in verstärkter Zahl abermals am Postgebäude einzufinden und mit fieberhafter Unruhe der Nachrichten zu harren, die der Draht heute sicher zu uns herüberleiten muß. Ein warmer Sommerabend. Man fühlt es, daß es sich nur noch um Augenblicke handeln kann. Der Telegraphenbeamten bemächtigt sich eine fieberhafte Unruhe, sie kommen immer wieder ans Fenster, als ob sie der Menge da unten sagen wollten! „Geduld, nur Sekunden noch und der Apparat wird Alarm läuten“ . . . Da, – zwölf Minuten nach sechs – ruft aus dem Erker, der noch vor wenigen Monaten des Postmeisters friedlich-lauschiges Ruheplätzchen war, die kräftige Stimme des Postbeamten: „Mobil!“ Alles hatte den Atem angehalten, wie vom Sturm zerstoben sind die Gäste vor Roodes Gasthaus und die Straße leert sich in wenigen Sekunden. Mit Blitzesschnelle läuft die Kunde von Straße zu Straße, von Haus zu Haus. „Mobil!“ Ein Wort, das Jeden durchrieselt, dem es in die Ohren klingt! Von einer einzigen gewaltigen Vorstellung erfüllt, ruft es Einer dein Andern zu: und doch: wie von einem Alp befreit, vernimmt es die Stadt mit freudigem Herzen. In jedes Heim dringt die längst erwartete Botschaft, löst Schrecken und Begeisterung aus und bald sind die Straßen und Plätze aufs neue der Sammelpunkt Derer, die sich einander die Herzen ausschütten und das große Weltereignis besprechen wollen. Die Zettel an den Anschlagstafeln künden's in großer Schrift: „Mobilmachung befohlen, erster Mobilmachungstag der zweite August“.


Personen: Spieß, Karl
Orte: Biedenkopf · Sarajevo · Österreich · Serbien · Berlin
Sachbegriffe: Julikrise 1914 · Attentat von Sarajewo · Grenzgangfeste · Kriegsgefahr · Mobilmachung · Telegraphendienst · Reisende · Kurgäste
Empfohlene Zitierweise: „Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916, Abschnitt 2: Warten auf Bekanntgabe der Mobilmachung in Biedenkopf“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/1-2> (aufgerufen am 26.04.2024)