Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 26: Gerüchte vom Eintritt Italiens in den Krieg

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G.C. 21.5.15. Von meinem Bruder H. erhalte ich einen Brief aus seiner Stellung vor Ypern. Seine Schrift ist zitterig, sie haben aus ihren 3 leichten Feldgeschützen weit über 1000 Schuß abgegeben. Und dann meldet er, daß sie Hunderte von deutschen Soldaten beerdigt hätten, die mit vielem toten Vieh noch seit Oktober hier weit hinter der englischen Front gelegen hätten. Das sind die kultivierten, humanen Engländer! Etwas Ähnliches zeigte mir heute unser Schützengraben. Ein Teil unseres Abschnittes H. ist eine eroberte französische Stellung. In einer alten französischen Schulterwehr fanden wir die Leiche eines deutschen Soldaten, den sie sozusagen als Sandsack benutzt hatten. Ich möchte mir selbst ersparen, mehr davon zu erzählen.
Der heutige Maientag ist so schön wie selten einer. Rotdorn, Flieder und Pfingstrosen blühen, und auf den Beeten im Schloßpark duften Goldlack und die ersten Rosen. Die junggrünen mächtigen Kastanien decken mein efeuumranktes Häuschen schon fast ein mit ihren Zweigen. Im Grase habe ich mich ausgestreckt, die Sonne brannte so schwül, und schwül drückte der ganze lange Tag auf uns. In den Karpathen stehen wir vor Przemysl, haben 174 000 Gefangene gemacht, und immer geht's noch mächtig voran, wir träumen von Sieg und Frieden — und nun — warten wir gespannt, ob unser eigener Bundesgenosse Italien uns in den Rücken fällt und den Krieg erklärt. An so viel gemeine Schurkerei konnten wir nicht glauben, der Gedanke allein liegt deutschem Wesen so fern. Wir haben bedrückt den Tag verbracht, als aber abends bekanntgegeben wurde, daß auch mit denen der Krieg bevorstände, da brach der Bann. Wieder einer mehr, man muß stolz sein, Deutscher sein zu dürfen.
Es ist so sonderbar, je mehr unserer Feinde werden, um so ausgelassener werden unsere Leute. Jetzt will alles nach Italien, um diese Gesellschaft zu verhauen. Alle kräftigen Bayernflüche, die kein Wörterbuch aufzählt, sind heruntergewettert worden, und der Rat der „Alten" hat beschlossen, daß die ganz besonders versohlt werden. Einen solchen Tag muß man im Felde mitgemacht haben, nicht ein Wort der Mutlosigkeit, jeder findet ein treffendes Wort, ob Sozialdemokrat, Liberaler oder Zentrumsmann, alle fühlen so kerndeutsch, daß man sich gehoben und wohl unter denen fühlt. Nur ein Seufzer entrang sich ab und zu einer Brust: „Jetzt dauert's nun wieder ein halbes Jahr länger, bis die noch verhauen sind." — „Und dann fahren wir hinterher alle noch nach Monaco, die haben auch noch nichts gekriegt." Und ein witziger „Baliner", der Schrecken des Regiments, geriet geradezu in Ekstase vor Begeisterung. Beim ersten Schuß ruft er über die Berme: „Wollt ihr wohl das Schießen aufhören, seht ihr nicht, daß hier Leut stehen!" und beim zweiten, der schon näher saß, etwas kleinlauter: „Bis 'n Unglück passiert, und hinterher will's keiner gewesen sein." So haben wir die Kriegserklärung der fünften Großmacht hier vorn im Schützengraben aufgenommen.

22.5.15. Man munkelt, daß wir in den nächsten Tagen von A. fortkommen, am liebsten möchte man nach Italien. Das ist die Hoffnung jedes Soldaten, ob Infanterist, ob Artillerist oder Pionier. Leutnant Sch. sagte es mir, daß wir bald an ein Wandern denken müßten. Unsere Arbeiten im Bereiche des . . . Regiments sind so ziemlich beendet, da wird bald über uns anderweitig verfügt werden.
Es tut mir leid um unser schönes Ruhequartier und um all das, was wir uns hier geschaffen haben. Unser Wannen- und Brausebad war gerade fertig, ganz A. war an unser kleines Elektrizitätswerk angeschlossen, unser Pionierpark war neu umgebaut und eingerichtet, das müssen wir jetzt alles den Truppen überlassen, die nach uns kommen werden.
Den heutigen Nachmittag habe ich einmal im zusammengeschossenen ..., das auf dem Wege zu unserer Stellung liegt, verbracht. Nur Ruinen der vormals sicher recht schmucken Häuser ragen in den [S. 279] tiefblauen Himmel hinein. Aber Efeu, Wein und andere Schlinggewächse decken die Mauern liebevoll zu. Wunderschöne Gärten gibt's hier draußen, keine Hand hat sie seit einem Jahre gepflegt, und doch blühen so üppig die Blumen. Ich habe mich in eine kunstvoll geschnittene, dichte Lindenlaube gesetzt, die Schutz vor den vielen Kugeln bot, und dort geträumt, bis die Amsel vom höchsten Punkt der roten Mauern der Abendsonne ein Scheidelied sang. — Dann bin ich mit meinen Infanteristen in Stellung gegangen. Als ich nachts bei klarem Mondschein den unheimlichen Weg still heimwärts trottete, fragte mich mein ständiger Begleiter, Pionier B., ob er Maien vor meine Tür stellen dürfe. So habe ich erfahren, daß morgen Pfingsten ist.


Personen: Fischmann, Wilhelm
Orte: Ypern · Karpaten · Przemysl · Italien · Monaco
Sachbegriffe: Geschütze · Gefallene · Engländer · Schützengräben · Leichen · Kriegsgefangene · Friedenssehnsucht · Sozialdemokraten · Zentrumspartei · Liberale · Infanterie · Artillerie · Pioniere · Leutnante
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 26: Gerüchte vom Eintritt Italiens in den Krieg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/164-26> (aufgerufen am 27.04.2024)