Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 23: Bau von Drahthindernissen, Frühling an der Front

[250, 262]
Unsere Leute gingen nur zögernd an die Arbeit. Zwei unliebsame Zwischenfälle beunruhigten sie, einmal hatten unsere eigenen Truppen auf uns geschossen, da nicht überall durchgesagt war, daß Pioniere draußen seien, das zweite Mal ging eine eigene Infanterie-Patrouille kriechend an uns vorbei und griff unsere Leute an, es entstand verschiedentlich ein lautes „Halt-wer-da?"-Rufen, die Franzosen wurden unruhig, und wir mußten uns in den Schützengraben zurückziehen. Leutnant Sch., Gefreiter W. und ich mußten unsern Leuten mit gutem Beispiel vorangehen. Wir haben die Hindernisse ineinandergeschoben und mit Draht verrödelt, blutige Hände habe ich mir dabei geholt.-
Um 3 ½ Uhr ging hinterm Sternwald die Mondsichel auf, die Nachtigall fing an, ihr Klagelied zu singen. Im Osten dämmerte leis der junge Tag; wir mußten zurück, da das Feuer ärger wurde. Ich war wie wohl alle recht durchnäßt, nicht allein vom feuchten Grase, die Aufregung wird viel mitgeholfen haben. Müde und abgespannt führte ich meine Leute nach ... zurück, wo wir die Ankunft unseres Leutnants erwarten wollten. Wir haben uns auf die Straße und in die zerschossenen Mauern auf den Boden gelegt und ein Stündchen geschlafen.

Den schönen Maientag (7.5.[1915]) muß ich nun im Bett verbringen, da die Arbeit der vergangenen Nacht uns recht müde gemacht hat. — Abends um 8 Uhr muß ich mit meinen Leuten wieder wie letzte Nacht ausrücken. Die Arbeit unterscheidet sich in nichts von der gestrigen.

[S. 262] G.C. Der 8. Mai [1915]und die darauffolgende Nacht war für uns Ruhe. Ich habe Briefe geschrieben, am Bade, das bald fertig ist, Hand angelegt und im Garten im hohen Grase gelegen. Es sind lachende, blühende Maientage, das Gras und die gelben Butterblumen schaukelten sich über mir, und am blauen Himmel segelten die vielen Schwalben dahin. Die junggrünen Kastanien wiegen ihre weißen und roten Blütensträuße im frischen Winde, es geht mit Riesenschritten in den Sommer hinein, der die Saat zum Reifen bringt.
Und auch draußen auf den Schlachtfeldern, im Westen wie im Osten reift die Saat heran: die Karpathenarmee ist von unserm prächtigen General Mackensen1 im Rücken gefaßt, bis jetzt 70 000 Gefangene, und im Nordosten nehmen unsere vorstürmenden Truppen Besitz von uraltem deutschen Boden: der Kriegshafen Libau2 wird genommen und weiter geht's auf Riga zu. Im Westen belegen wir Dünkirchen3 von der Landseite her mit 38 cm-Granaten. England wird an seiner empfindlichsten Seite, am Geldbeutel, durch die Versenkung seines Riesendampfers Lusitania4 getroffen und zugleich erhalten wir Kunde von einer schweren, für die Engländer sehr verlustreichen Seeschlacht, die sich englische Kampfgeschwader bei Bergen in Norwegen untereinander lieferten. Es geht herrlich vorwärts, wenn auch an einen Frieden noch nicht zu denken ist.


  1. General August von Mackensen (1849-1945).
  2. Libau, heute Liepāja, lettische Hafenstadt an der Ostsee, 1915 durch deutsche Truppen besetzt.
  3. Dunkerque, französische Hafenstadt an der Nordsee, Départment Nord.
  4. RMS Lusitania, britische Passagierschiff auf der Atlantikroute, am 7. Mai 1915 von einem deutschen U-Boot vor der irischen Südküste versenkt, was etwa 1200 Passagieren das Leben kostete.

Personen: Fischmann, Wilhelm · Mackensen, August von
Orte: Karpaten · Libau · Liepāja · Riga · Dunkerque · Bergen · Norwegen
Sachbegriffe: Pioniere · Infanterie · Patrouillen · Franzosen · Schützengräben · Lautnante · Gefreite · Drahthindernisse · Briefeschreiben · Feldpost · Kriegsgefangene · Lusitania (Schiff) · Engländer · Seeschlachten · Unterseeboote · U-Boot-Krieg
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 23: Bau von Drahthindernissen, Frühling an der Front“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/164-23> (aufgerufen am 27.04.2024)