Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 22: Gefährlicher Bau von Drahthindernissen

[249-250]

Ich habe mein Tagebuch oft wieder aus der Hand gelegt, es fällt mir heut so schwer zu schreiben.

Gestern, 3. Mai [1915], habe ich vom frühen Morgen bis abends 9 Uhr, ohne Mittag- und Abendbrot zu bekommen, ein Feldwerk bei G. mit Leutnant Sch. zusammen projektiert. Und als ich abends müde und abgespannt heim komme, finde ich einen Brief von H. vor, der mir banggeahnte schlimme Kunde bringt. . . . Ich habe bis nachts 3 Uhr bei Kerzen schein gearbeitet, dann bin ich auf mein Stroh gekrochen und habe mich ausgeweint.

Heute ist bereits der 6. Mai. Gestern und heute erhielt ich nun die schmerzliche und doch befreiende Kunde, daß der liebe R. den Heldentod nach siegreicher Schlacht fürs geliebte Vaterland gestorben ist. . . .

Meine Wohnung in A. ist seit heute nicht mehr jenes niedrige Stübchen im Schloß, jetzt wohne ich in einem idyllischen Gartenhäuschen vor dem Glashaus des Schlosses. Efeu rankt sich vor den Scheiben, und über das alte spitze Schieferdach und in den hohen blütentragenden Kastanien, die ihre langen Zweige tief auf mein Häuschen herunter hängen lassen, singen Fink und Meise und schluchzt nachts die Nachtigall. Und wenn ich vor der Tür im Mauereck an den Beeten sitze, dann fällt mein Blick auf den herrlichen Schloßpark mit seinen alten Bäumen und weiter auf das Dorfkirchlein. Vielstimmige Maienlieder werden draußen von den rastenden Soldaten gesungen, Harmonikaspielen dringt herüber, und dazwischen dröhnt immer der knallende Donner der Mörser- und Haubitzbatterien.
[S. 250] Es ist ein Ort zum Träumen, und viel bin ich hier schon mit meinen Gedanken allein gewesen, Heimweh hat mich gequält, Stimmen von lieben Menschen haben mir gefehlt. Aber mein Herz verzage nicht, noch heißt's, mutig ausharren.
Heute abend muß ich mit 25 Mann und unserm Leutnant Sch. zum Hindernisbau ausrücken. Gerade heute hätte ich mir diesen so gefahrvollen Auftrag nicht gewünscht. Aber unser Leben steht in Gottes Hand. Gestern ist selbst in A., als ich am Bad weiterbaute, noch keinen halben Meter von mir entfernt eine von einer Fliegerbeschießung herrührende Kugel in den Boden gesaust.
Abends um ½ 9 Uhr gehen wir Pioniere und 50 Mann Infanterie auf offener Straße nach ... zu. Je 2 Mann tragen an einer Stange zwei „spanische Reiter", andere Eisenpfähle, Stacheldraht, Lederhandschuhe und Drahtscheren. Die Landstraße zieht sich über eine Kuppe und unsere Kolonne kann von einem aufmerksamen Feinde ganz gut beobachtet werden. Gestern ist sie unter Artilleriefeuer genommen, und eine Granate hat von uns ein Pferd zerrissen, einen Mann und ein Pferd schwerverwundet. Ich habe den Befehl über die 75 Mann und lasse in einzelnen Gruppen vorrücken. Wir sind froh, als wir unser Depot erreichen.

Hier machte ich mit Leutnant Sch. den Plan zum Vorrücken. Wir werden über freies Feld bis zum Schützengraben vorgehen, dort ein Laufbrett darüber legen, und dann tragen unsere Pioniere die Hindernisse vor unserer Front noch 400 m entlang bis vor den Wald.
120 m sind feindlicher und unser Schützengraben von einander entfernt, 20 m vor unserer Stellung müssen unsere Leute hergehen, denn 25 m vor dem Graben soll diese zweite vorderste Reihe gebaut werden. Schreite Dir einmal diese 100 m ab. Du wirst mir glauben können, daß Selbstbezwingung zur Ausführung dieser gefahrvollen Ausgabe gehört.
Leutnant Sch. und ich suchen den Weg aus, den der Trupp gehen soll. Von ... aus gehen wir die Straße nach H. zu, rechts und links fliegen einzelne Infanteriekugeln vorbei. Wir verlassen mit unsern 8 Pionieren die Straße, um das Geräusch unseres Trittes zu vermeiden, und gehen rechts der hohen Pappeln durch Wiesen und Rübenfelder auf das linke Eck des Wäldchens zu. Metertiefe Granattrichter hemmen ab und zu unsern Weg, wenn eine Leuchtkugel hochfliegt, pressen wir uns die Minuten an den nassen Boden, ein paar Kugeln mehr fliegen über uns weg und dann geht's wieder lautlos weiter dem Schützengraben zu. Die 8 Mann lasse ich unterwegs in Abständen von 80 m zurück, sie sollen den nachkommenden Trägertrupps den Weg weisen. Wir kommen zu zweit am Graben an. Der Leutnant springt hinein, er will veranlassen, daß unsere Infanterie zu schießen aufhört. Ich muß wieder zurück zur Sternwaldecke, nur ebenfalls die Verbindung herzustellen.
Ich hatte kaum eine Viertelstunde an dieser Ecke im feuchten Grase gelegen, als die Franzosen Granaten herübersandten. Drei schlugen ungefähr 100 m von mir entfernt ein. Ich glaubte uns schon entdeckt, aber bald herrschte wieder Ruhe, die die ganze Nacht anhielt.
Die kleinen Trägertrupps nähern sich lautlos, das Laufbrett gleitet sacht über den Schützengraben, die Infanterie übergibt unsern Pionieren die Hindernisse, und nun beginnt der gefahrvolle Weg vor unserer Front entlang.
Die Franzosen haben lange nicht so gute Leuchtraketen wie wir. Sie gehen rotglühend in die Luft und bleiben dann erst weißglühend 2 Minuten mit ihrem Seidenfallschirm still in der Luft stehen. Wenn nun der rote Strahl über uns in die Luft zischt, haben wir gerade noch Zeit, uns mit unserer Last zu Boden zu werfen. Wir sind trotz der nahen Entfernung niemals bemerkt worden.


Personen: Fischmann, Wilhelm
Sachbegriffe: Westfront · Frontabschnitt: Somme · Tagebücher · Leutnante · Gefallene · Mörser · Haubitzen · Heimweh · Hindernisbau · Flugzeuge · Fliegerangriffe · Pioniere · Infanterie · Spanische Reiter · Stacheldraht · Artilleriefeuer · Granaten · Pferde · Verwundete · Granattrichter · Leuchtmunition · Schützengräben · Franzosen
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 22: Gefährlicher Bau von Drahthindernissen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/164-22> (aufgerufen am 27.04.2024)