Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 27: Ruhige Pfingsten an der Front, Gedanken an die Heimat


23.5.15. Heute ist ein wahrer Feiertag. Der Mai hat sein schönstes Kleid angezogen und zeigt es uns in leuchtender Sonne, zum ersten Male ruht unsere Kreissäge, keine Maschine brummt, es sind wirkliche friedliche Pfingsten. Keinen Schuß habe ich bis heute mittag gehört. In der Kantine der Artillerie habe ich mir Johannisbeermarmelade geholt und dabei einen kleinen Lauf durchs Dorf gemacht. Das hat auch sein Feiertagskleid angezogen, unsere Soldaten haben wie auf ihren Dörfern daheim die Straßen sauber gekehrt und vor jedem Haus, vor jedem Unterstand, dem Schloß und meiner Klause flattern die Birkenblätter im Winde. Vorm Kirchlein stehen unsere Feldgrauen in dichten Scharen, die kann die Mengen nicht alle fassen, sie haben sich die Stiefel geputzt und sauber gewaschen (ich hab's hinterher auch gleich getan), tragen den Helm in der Hand und lauschen mit mir der Musik der Regimentskapelle. Tannhäuser dringt weihevoll durch den kleinen Chor, aber mehr packt mich das schlichte Lied: „Du bist die Ruh, der Frieden mild". Das haben wir daheim auch so oft gesungen.
Heute nachmittag um 4 Uhr ist evangelischer Gottesdienst, ich habe mir frei geben lassen, den werde ich nicht versäumen.
Ein einzigartiger Pfingsttag ist das heut. Kein Schuß hat die Stille entweiht, es ist wirklicher Feiertag.
Ich sitze vor der Tür im Grase und bewundere den friedlichen goldenen Abendhimmel. Kein einsames Wölkchen ist zu sehen, die rote, glühende Abendsonne leuchtet hinter der grünen Kastanie vor mir, ich denke an daheim, wenn wir sie zusammen hinter den weißen Birken vorm Küchenfenster leuchten sahen oder wenn ich einsam auf einer Bank vorm Schloß in Wilhelmshöhe saß und der Himmel hinterm alten Herkules sich rosenrot färbte. Doppelt schön wirkt in dieser Stille hier draußen im Felde das Wunder des Maienabends auf uns alle, ich möchte schauen und bewundern, bis die Sterne aufziehen.
Unsere Pioniere haben sich ein offenes Zelt gebaut, über dem die Maien leise im Abendwinde flattern. Sie sind so still wie ich, rauchen ihr Pfeifchen und erzählen von daheim.
Nachmittags war ich in der festlich geschmückten Kirche, ich mußte stehen, aber bei der Predigt ist mir das nicht lang geworden. Dann bin ich durch den Park gegangen und habe mir die alten Bäume angesehen. Hinterm Schloß liegt ein kleiner Hügel, der von einem Graben umgeben ist. Es scheint eine viele Jahrhunderte alte Befestigungsanlage gewesen zu sein. Unter den alten Bäumen habe ich im Moose ausgeruht. Eine uralte Eibe steht dort, unsere Leute haben ein Schild daran angebracht: „Naturdenkmal!" — Hier habe ich in die Ferne geschaut über die Ebene nach den fernen Wäldern und dem von den Franzosen besetzten Foucaucourt1. Alles lag so prächtig im Sonnenglanze, rosa Apfelblüten leuchteten vor dunklen Kastanien, und zartblau schimmerte die weite Ferne.
Und doch ist's die Heimat nicht! Wie viel schöner ist mein Thüringen und mein Hessenland mit seinen waldigen Bergen und rauschenden Bächen.
Ich habe heute an meine Tätigkeit in Motzenrode2 im Werratale gedacht. Da lebte ich auch bei einfachen Bauersleuten so bescheiden wie jetzt. Und wie schön war's doch dort. Des Abends, wenn von Allendorf3 her im Tale der Nebel aufstieg und hinter den Bergen der Himmel glühte, dann sangen in den Gassen des kleinen Eichsfelddörfchens die Jungen und Mädchen dreistimmig die Volkslieder, die ihnen der Lehrer beigebracht, und mit diesem zog ich dann los durchs taufeuchte Gras, ein alter gemütlicher Oberförster ging mit uns, und noch im Abenddunkel wurden Erdbeeren gesucht und das äsende Wild beobachtet. Und abends saßen wir unterm alten Nußbaum beim Wirtshaus und verplauderten die Stunden.
Ich weiß nicht, wie ich gerade auf dieses stille Leben in Motzenrode komme. — Ich entdecke so viel Ähnlichkeiten, dieselben stillen, einsamen Abende, dasselbe einfache Leben, derselbe schwermütige Gesang dort wie hier bei unsern Soldaten, dieselben dichten junggrünen Buchen, in denen die Käfer surren.
Aber die Heimat ist es nicht. Mir fehlt jener weite, schöne Blick ins stille Werratal, das tief unter meinen Füßen lag.
Es ist dunkel geworden. Schon wirft der Mond sein bleiches Nebellicht ans mein Gartenhaus. Strenger duften Rotdorn und Flieder, sie machen so müde. Ich will schlafen gehen.


  1. Foucaucourt-en-Santerre, Ort im Département Somme, etwa 15 km südwestlich von Péronne.
  2. Motzenrode, heute Gemeinde Meinhard, Werra-Meißner-Kreis.
  3. Heute Bad Sooden-Allendorf, Werra-Meißner-Kreis.

Personen: Fischmann, Wilhelm
Orte: Wilhelmshöhe · Foucaucourt-en-Santerre · Péronne · Thüringen · Motzenrode · Bad Sooden-Allendorf
Sachbegriffe: Artillerie · Feldgrau · Militärmusik · Pioniere · Franzosen
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 27: Ruhige Pfingsten an der Front, Gedanken an die Heimat“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/164-27> (aufgerufen am 27.04.2024)