Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 28: Reaktionen auf den Kriegseintritt Italiens

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24.5.[1915] Heut ist wieder für uns Wochentag. Den Tag durfte ich zu Haus bleiben. Mit großer Genugtuung vernahmen wir die Erklärung der österreichischen Regierung, daß sie die Kündigung des Dreibundvertrages1 nicht zur Kenntnis nehmen könne. Also fein verblümt der Vorwurf des gemeinen Treubruchs!
Abends um 6 Uhr ging ich in Stellung. Es war Fliegerwetter, sie wurden ergebnislos stark mit Schrapnells beschossen.
Die Kriegserklärung Italiens erfuhr ich hier vorn auf besondere Weise. So etwas muß man im Felde mitgemacht haben. Ich bin sicher, daß wir trotzdem den Sieg erringen, an solchen Willen zum Siege hätte ich bei Leuten, die 9 Monate im Felde stehen, nicht gedacht.
Es ist ¼ 10 Uhr, plötzlich fängt drüben im feindlichen Graben ein Geschrei an, die Käppis, aber auch nur die, gucken über die Berme: „Vive I'Italie, à bas Ies Allemands, Hurra — Hurra. — vive I'Italie" — so brauste das den Graben von links heran, läuft die Stellung entlang wohl bis zur Schweizer Grenze, wenn nicht von der Seite diese Begeisterungswelle auch schon heranbrandet, und dann beginnen sie die Marseillaise: „Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire . .". Unsere Artillerie ist unverschämt, ein Paar Granaten heulen über uns weg, sie saßen gutgezielt im Graben, das „gloire" ist ihnen gerade im Halse stecken geblieben, aber gebrüllt haben sie hinterher wieder wie die wildgewordenen Säue von Ninive: „Hurra — vive I'Italie — à Berlin!" Und dann mußten Salven und sogar ganz nutzloses Maschinengewehrfeuer ihrer Begeisterung den nötigen Nachdruck verleihen. — Wie schön muß es doch für die sein, einen Strohhalm gefunden zu haben, an den sich jetzt alle ihre letzte Hoffnung klammert.
Unsere Bayern sind prächtige Kerle, wenn sie auch den Krieg oder vielmehr die Siege im Westen ganz allein gemacht haben wollen. „Dös Sakramenterpack soll nur kumma, wanns blutige Köpf haben wolln, dös Streikbrechergesindl!" Und jetzt hoffen alle auf einen vor Begeisterung nicht genügend vorbereiteten Angriff der edlen verbündeten Gegner, sie freuen sich schon alle darauf. Ich habe mich wirklich belustigt da vorn und — ein kleines bissel geschämt. Diese bayrische Bierruhe und Zuversicht ist wirklich herrlich.
Ich bin allein heim. Als ich in V. war, setzte ein Feuer ein, wie ich's nur einmal gehört. Sssss (stimmhaft, bitte) machten die Infanteriekugeln um mich herum und die Granaten der Feldgeschütze, Haubitzen und Mörser heulten über mich weg ihr Klagelied. Als wenn ein Hund heult oder die Elektrische am Frankfurter Berg in Kassel scharf bremst! Das war ein unheimliches Krachen, Donnern, Pfeifen und Dröhnen, prächtig. — Aber noch prächtiger sind die Siegesnachrichten, die ich hier soeben brühwarm wie unsere Nudelsuppe erhalte: 15.000 Russen, 11.000 Italiener gefangen! — Venedig brennt! (Armes Venedig, ärmerer Katzenjammer.) Aber wenn's auch vielleicht nicht wahr ist, zeigt's Euch nicht unsern neuen Mut und unsere Zuversicht?

25.5.[1915] Auf nicht alltägliche Weise werde ich aus dem Schlaf getrommelt. Um ½ 6 Uhr beginnt ein schreckliches Schießen, ich glaubte, die Franzosen seien schon im Ort oder am Ortsrand und legte mich deshalb auf die andere Seite. Salven, Maschinengewehrfeuer, klingende Schrapnells und krachende Granaten mischten sich über unserm Quartier zu einem die Ruhe störenden Konzert. Ich kroch unter meine Decke, die hätte durchschlagende Kugeln auch nicht aufhalten können, aber man empfindet gleich so ein Sicherheitsgefühl, und außerdem fror ich, denn ich hatte bloßgelegen. Hinterher erfuhr ich den Sachverhalt. Ein englisch-französisches Flugzeuggeschwader von 30 Flugzeugen hat einen Renommierflug unternommen, eins ist heruntergeholt worden. Schade, daß ich nicht im Schützengraben war, ich hätte noch einmal die Begeisterungsausbrüche der Völkerstämme sehen mögen.
Der Tag verlief so ruhig wie all die ändern, vormittags hörte man kaum einen Kanonenschuß. Erst abends von 6 Uhr ab finden die schwachen Artillerieduelle statt, die uns aber weiter nicht interessieren, sofern wir nicht selbst die Getroffenen sind.
Abends machte ich wieder meinen einstündigen Laufgrabenbummel nach X. Die schönen Gärten dort müssen mir jetzt täglich Blumen für mein Zimmer und — frische Spargeln liefern, die ich mir fein mit Butter zurechtmachen lasse.


  1. Nach dem Geheimvertrag Italiens mit Großbritannien, Frankreich und Rußland vom 26. April 1915 (Londoner Vertrag) kündigte Italien den 1882 geschlossenen Dreibund mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Am 23. Mai 1915 trat Italien in den Krieg mit Deutschland und Österreich auf Seiten der Entente ein.

Personen: Fischmann, Wilhelm
Orte: Österreich-Ungarn · England · Frankreich · Italien · Russland · Berlin · Venedig
Sachbegriffe: Dreibund · Londoner Vertrag · Flieger · Flugzeuge · Schrapnells · Kriegserklärungen · Marseillaise · Artillerie · FRanzosen · Maschinengewehre · Granaten · Geschütze · Feldhaubitzen · Mörser · Siegesmeldungen · Kriegsgefangene · Laufgräben
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 28: Reaktionen auf den Kriegseintritt Italiens“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/164-28> (aufgerufen am 28.04.2024)