Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Jakob Hartmann, Lebenserinnerungen eines Alsfelder Lehrers, 1914-1919

Abschnitt 5: Versorgung als Verwundeter, Rücktransport

[18-19] Nach einer tollen Fahrt hatten wir den Hauptverbandsplatz erreicht, auf dem die Sanitätskompagnie 518 tätig war. Ich kam sofort auf den Operationstisch, der in der Mitte eines Zeltes stand und durch Carbid- oder Acetonlicht beleuchtet war. Endlich wurde der mir qualenbereitende Riemen um den Oberschenkel gelöst, Blut spritzte, ich bekam eine Narkosemaske vors Gesicht und war sofort ohne Bewußtsein und ohne Schmerzen. Als ich wieder zu mir kam, stand die Bahre, auf die man mich gepackt hatte, an einer Schuppenwand, um mich dunkle Nacht. Monate später hatte ich in Deutschland Gelegenheit, Einsicht in die auf dem Hauptverbandsplatz angelegte Akte über meine Verwundung zu nehmen. Darin standen auf der ersten Seite die inhaltsschweren Sätze: „Befund: Schwer verwundeter, totblasser, ausgebluteter Mann, Puls nicht fühlbar. Einschuß dicht unterhalb des Kniegelenks rechts neben der Schienbeinkante. Ausschuß an der Hinterfläche, etwa 3 Querfinger unterhalb des Gelenkspaltes. Sehr erhebliche Blutung, pulsierend aus beiden Öffnungen."

Für den nächsten Tag war eingetragen:

„Puls nicht fühlbar. Aussehen blaß, doch gebessert. Blutung steht bisher."

Jeden Abend kam eine Autokolonne, um Verwundete weiter zurück in ein Feld- oder Kriegslazarett zu bringen. Ich kam dafür nicht in Frage, weil ich nicht als transportfähig angesehen wurde. Man war anscheinend der Meinung, der stirbt unterwegs. So blieb ich weiterhin unter freiem Himmel auf meiner Tragbahre. Erst nach drei Tagen, für meine Lage eine unendlich lange Zeit, erfüllte sich die gehegte Hoffnung, wieder ein Dach über den Kopf zu bekommen und dazu sogar ein Bett. Ich kam in das Res. Feldlazarett 67 und anschließend in ein Kriegslazarett, unweit St. Quentin. Der Aufenthalt dort währte nicht lange, nach wenigen Tagen ging es mit einem Lazarettzug in die Heimat.

Auf der Fahrt von Frankreich an die Elbe kam ich wieder auf den Operationstisch. Dabei sah ich mit Entsetzen zu, wie der Arzt mit einer gekrümmten Schere mir den Muskel entlang des Schienbeins herausschnitt, weil er gänzlich abgestorben [S. 19] war. Als ich einmal zuckte, weil Blut kam, meinte der Chirurg, ich solle froh sein, wenn es blute, das sei ein Zeichen, daß noch Leben vorhanden sei. Zum Schluß hatte ich entlang des Schienbeins eine über 27 cm lange und etwa 7 cm breite und tiefe Wunde. Der Arzt hatte auch gleich einen Trost für mich. Der Wadenbeinmuskel sei noch in Ordnung, so meinte er, damit könne ich das Bein krümmen, und das Strecken besorge eine von einem Orthopäden angefertigte Zugfeder, die vom Oberschenkel über das Knie zum Unterschenkel laufe.


Recommended Citation: „Jakob Hartmann, Lebenserinnerungen eines Alsfelder Lehrers, 1914-1919, Abschnitt 5: Versorgung als Verwundeter, Rücktransport“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/79-5> (aufgerufen am 25.04.2024)