Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Jakob Hartmann, Lebenserinnerungen eines Alsfelder Lehrers, 1914-1919

Abschnitt 4: Verwundung durch Beinschuss in Nordfrankreich

[16-17] Das dicke Ende

Eines Morgens erhob sich an der Front ein mörderisches Artilleriefeuer, und den Franzosen gelang es, in die deutsche Linie einzubrechen, und das in Ruhe liegende Bataillon bekam den Auftrag, im Gegenstoß den Feind wieder zurückzuwerfen. Dabei erwischte es mich. Ein Geschoß durchschlug mir den rechten Unterschenkel und zerriß dabei die Kniekehlenschlagader. Ich stürzte zu Boden, versuchte aufzustehen, was aber nicht mehr gelang. Dabei verlor ich Blut, Blut und nochmals Blut. Wer einen solchen Gefechtsschlamassel erlebt hat, weiß, wie verlassen man da ist. Keiner meiner Kameraden konnte sich um mich bekümmern. Was kann man von einem verlangen, [S. 17] der auf der Flucht vor den Granaten ist, und von einem Geschoßtrichter in den anderen springt. Da ist jeder auf sich selbst angewiesen. Meine Rettung war, daß ich nicht ohnmächtig wurde und mir zunächst noch selbst helfen konnte. Ich holte aus' der Rocktasche den dort verwahrten Lederriemen hervor, legte ihn um den Oberschenkel und schnallte, so fest ich konnte, zu. Dann sank ich erschöpft zurück. So lag ich nun da, auf dem regennassen Feld der Ehre, ohne zu wissen, wie es rechts und links und vor- und rückwärts von mir aussah, über mir den regnerischen französischen Himmel.

Erst Stunden später, nachdem sich die Schießerei beruhigt hatte und es auf deutscher Seite vorangegangen war, kamen Mannschaften einer Sanitätskompagnie, um das Gefechtsgelände nach Verwundeten und Toten abzusuchen. Dabei fanden sie mich, und ich wurde in eine Artilleriestellung gebracht.

Die Schmerzen, die ich hatte, waren qualvoll, der Unterschenkel war angeschwollen und füllte prall den Stiefel, der aufgeschnitten werden mußte, anders war er nicht zu entfernen. Auch das Hosenbein wurde auf diese Weise entfernt, um an die Wunden zu kommen. Ich bekam einen Notverband. Die Schmerzen, die ich hatte, waren grausam, und ich bat den mich verbindenden Sanitätsunteroffizier, doch einmal den Riemen um den Oberschenkel zu lockern. Das geschah, aber sogleich färbte sich der soeben angelegte Verband rot. Der Sanitäter zog den Riemen sofort wieder an und bekundete mir, daß das so bleiben müsse. Was kann doch ein Mensch für Schmerzen ertragen, wenn es sein muß. Nach Eintritt der Dunkelheit kam eine pferdebespannte Sanitätskolonne, um Verwundete abzuholen und zurückzubringen. Es ging alles in großer Eile. Die Fahrer wollten mit ihren Pferden wieder schnellstens aus dem Schußbereich kommen. Im Karacho ging es neben der Straße über Wiesen und Felder, über Stock und Stein, auf die Schmerzen der Verwundeten wurde keine Rücksicht genommen. Auf der Straße selbst war kein Platz für die Saniwagen, sie wurde gebraucht für die Munitionskolonnen, Feldküchen und andere Fahrzeuge, die zur Front strebten oder von dort zurückkamen, es war eine starke Belastungsprobe für alle Beteiligten.


Recommended Citation: „Jakob Hartmann, Lebenserinnerungen eines Alsfelder Lehrers, 1914-1919, Abschnitt 4: Verwundung durch Beinschuss in Nordfrankreich“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/79-4> (aufgerufen am 24.04.2024)