Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917

Abschnitt 5: Sichtbarkeit der Kriegszerstörung im Landschaftsbild

[128-129]
Die Landschaft hat dadurch für uns Seele und Leben gewonnen. Das Landschaftsbild hat sich in diesen zwei Jahren stark gewandelt. Es trägt die Züge unserer Arbeit und unseres Erlebens. Das Land hat einen neuen Charakter bekommen. Da liegt der „Kanonenberg", das Wahrzeichen der Gegend, wegen seiner eigenartigen Form auch „Sargdeckel" genannt. Im Spätsommer 1914 trug er auf seiner Kuppe ein ganz ansehnliches Kiefernwäldchen als Schopf.

Aber der Schopf wurde dann bös zerzaust. Der Haarwuchs unseres Kanonenbergs wurde immer lichter. Unter dem Granatfeuer der Septemberoffensive schwand er ganz dahin. Heute hat der Kanonenberg keinen Haarwuchs mehr, sondern eine Glatze. Aber je kahler die Außenseite wurde, desto mehr vervollkommnete sich das Innere dieses Steinschädels. Vielleicht zeigt man ihn später einmal, wenn wieder Friede in der Welt ist, als Sehenswürdigkeit. Der Franzose hat mehr als einmal die Erfahrung machen müssen, daß der Steinschädel eine harte Stirn hat. Von ihm aus ist die blutige Höhe 191 angepackt worden. An ihm haben sich in jenen schweren Septembertagen des Jahres 1915, die zu den Ehrentagen unserer Regimenter gehören, die Massenstürme der französischen Herbstoffensive gebrochen.

Wer einmal mit offenen Augen von dieser Höhe ins Land geschaut hat, wird das Bild nie vergessen. Weit zieht sich die Ebene, durch die der Dormoisebach der Aisne zufließt. Wenn in der Morgenfrühe die Nebel brauten, sah das Land aus wie ein wallender, gärender See, aus dem sich die Höhen 191, 150, 147 und 148 wie Inseln erhoben. Den beherrschenden Mittelpunkt bildete in den ersten Monaten des Stellungskampfes das große Kreuz auf der Höhe La Justice. Bald ist es dem Krieg zum Opfer gefallen. Nun stieg über den Argonnenwäldern rotglühend der Sonnenball auf und besiegte die Nebelmassen. Der Kirchturm von Cernay tauchte auf, der letzte Hüter eines toten Dorfes, das wie so viele andere französischen Granaten seinen Untergang verdankt. [S. 129] Auch dieser Turm steht längst nicht mehr. Im Nordwesten erscheint neben einer malerischen Gruppe alter Linden der Kirchturm von Bouconville. Dort haben wir manchen Gottesdienst gehalten. Jetzt ist die Kirche von einer Granate zerrissen; das Dorf ist bis auf geringe Reste verschwunden. Drüben südlich der Bayou-Ferme liegen die Höhen, auf denen Mitte September 1914, dann am 26. September, als das Bois de Ville im erbitterten Waldgefecht gestürmt wurde, so heiß gekämpft worden ist. Der geschärfte Blick des Kundigen sieht die Stellen, wo sich im Gelände unsere Artillerie eingenistet hat. Zum Bahnhof Cernay hinüber zieht sich die wohlbekannte malerische Pappelallee. Hart neben der Straße, die von Cernay nach Ville-sur-Tourbe führt, schimmern die Grabdenkmäler des uns so teuren Kameradenfriedhofes herüber.

Wir schauen über die Kuppe des Kanonenbergs nach Süden und Südosten. Das ist sie, die furchtbar vom Kampf umtobte Höhe 191. Im Zickzack ziehen sich die Sappen1 an sie heran, in denen sich die Unseren in monatelangem verbissenen Ringen vorwärts gearbeitet haben, bis am 3. Februar 1915 jene gewaltige Sprengung das Zeichen zum Sturm gab. Er gehört zu den schönsten Ruhmestaten der beteiligten Regimenter. Noch weiter südlich liegen weißleuchtend die Höhen von Malmy, von denen uns die französische Artillerie so manchen heißen Gruß herübergeschickt hat. Tiefer im Gelände ziehen sich unsere Briqueteriestellungen. Sie sind mit der Geschichte eines anderen unserer Regimenter für immer verwachsen. Es wird wenige Stellen an der Westfront geben, wo ein solch unerbittlicher, langandauernder, unterirdischer Minierkrieg geführt worden ist, wie hier. Die 30 Meter breiten, 10 Meter tiefen Trichter unserer Sprengungen vom 15. Mai 1915, die Reihen französischer Sprengtrichter legen Zeugnis davon ab. Wie ein Fels im brandenden Meer stand diese Stellung in den Septembertagen des Jahres 1915. Das Regiment, das in diesem Teil unserer Linie seine Kampfheimat hat, ließ hier wütende feindliche Anstürme zerschellen. Weiter östlich blinkt, von dichtem Schilf umrauscht, der See herüber. Mehr als einmal hat er unsere Leute mit Fischen versorgt.


  1. Oberirdische Gräben bzw. militärische Verbindungswege.

Persons: Veidt, Karl
Places: Argonnerwald · Bayou-Ferme · Bois de Ville · Bouconville · Cernay · Höhe 147 · Höhe 148 · Höhe 150 · Höhe 191 · Höhe La Justice · Kanonenberg · Malmy
Keywords: Friedhöfe · Gottesdienste · Granaten · Heimat · Landschaft · Sprengungen · Zerstörung
Recommended Citation: „Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917, Abschnitt 5: Sichtbarkeit der Kriegszerstörung im Landschaftsbild“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/35-5> (aufgerufen am 18.04.2024)