Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917

Abschnitt 1: Emotionale Verbindungen zur französischen Landschaft

[121-123]
„Wenn wir in Urlaub waren und zu Hause von unserem Feldleben erzählten kam es vor, daß wir von unseren Stellungen und Quartieren als von „daheim“ sprachen. In Deutschland verstand man das nicht ganz, und die Frauen wurden manchmal ordentlich ärgerlich, wenn ihre Männer so sprachen, und meinten: „Euch scheint es ja draußen besser zu gefallen als hier.“ Ach, ihr guten Leute daheim, nie haben wir die Heimat lieber gehabt, als jetzt, da wir ferne von ihr sind! Und doch ist etwas dran, daß wir im Feld heimisch geworden sind. Es liegt das Bewußtsein darin: Ein rechter Mann, der fürs Feld brauchbar ist, gehört jetzt hierher und nicht nach Hause hinter den Ofen. Die Heimat im Vaterland müssen wir uns hier draußen erst wieder neu erobern. Je mehr wir mit dem Feldleben und mit dem Platz, auf den wir gestellt sind, verwachsen, desto besser dienen wir der Heimat. Gerade weil wir ihr treu sein wollen, mußte uns das Feld auch ein Stück Heimat werden. Aber dazu kam noch etwas anderes. Die wenigsten Regimenter konnten so mit einer Gegend verwachsen, wie die unsern mit ihrer Champagne- und Argonnenecke. Wenn [S. 122] man, wie die Alten unter uns, etwa zwei Jahre in einer Gegend in den Schützengräben und Quartieren gelegen hat, wenn man sie im Sommer- und Winterwetter, im Frühlingszauber und Herbststurm, in Regen, Schnee und Überschwemmung nach allen Richtungen durchquert hat, wenn sich mit den Trümmern der Dörfer und den zerschossenen Baumstümpfen ernste und frohe Erinnerungen verknüpfen, wenn man bei den Gängen in die Stellungen und aus den Stellungen zurück, auf Patrouillenwegen und bei nächtlicher Schanzarbeit so lange Zeit den Schutz und die Tücke des Geländes studiert und ihm alles abgelistet und abgerungen hat, was es hergeben konnte, so muß sich eine Art Heimatgefühl herausbilden. Wir sahen, wie die feindlichen Granaten den Boden zerrissen und wie dann die Natur, die unverwüstliche und unzerstörbare, im nächsten Frühling doch wieder die Trichter mit ihrem grünen Teppich überspann, als wollte sie mitleidig die Wunden heilen, die der erbarmungslose Krieg dem Boden geschlagen hatte. Wir haben Dörfer verschwinden sehen, in denen wir einmal im Quartier gelegen haben. Das Land war groß und an Schlupfwinkeln reich genug, um uns die Möglichkeit zu neuen Ansiedlungen auf der Erde und unter der Erde zu bieten. Dann führte uns der Weg wieder an den verlassenen, nun schon von Strauchwerk und Brennesseln überwucherten Wohnstätten vorbei. Manche Erinnerung an unvergeßliche Stunden und an die guten Kameraden, die sie mit erlebten, stiegen in uns auf. „Hier haben wir Weihnachten gefeiert.“ „Hier haben wir am Kamin gesessen und beim flackernden Holzstoß die Gedanken zur Heimat hinüberwandern lassen.“ „Hier stand einmal die Kirche, in der wir Gottesdienst hielten, während das Dröhnen der Geschütze den Glockenklang vertrat.“ „Hier haben wir biwakiert, während der „Bauernschreck“1 über uns kreiste und uns mit seinen Bomben belästigte.“ „Hier hat das letzte Huhn von Cernay sein Leben lassen müssen, und hier — wißt ihr noch? — hat euch euer Kompanieführer zum letztenmal versammelt, ehe ihr in der großen französischen Herbstoffensive den Gang auf Leben und Tod antratet.“ Dies Bewußtsein: „Wir sind durch das Ernsteste [S. 123] und Gewaltigste, was ein Mann erleben kann, mit diesem Lande eins geworden“, wächst, je weiter es nach vorne geht. Die Gräber am Weg, die Friedhöfe von Cernay und am Kanonenberg, die eichenumrauschten Totenstätten des Bois de Ville und des Argonnerwaldes, die Kreuze auf der Höhe von La Mare-aux-boeufs und in den Schluchten des Dieussontales erzählen ihre Geschichte. Über diese kahlen Höhen mußtet ihr hinüber, um Kaffee, Essen und Holz in die vorderste Linie zu schleppen. In jene Mulde habt ihr euch geflüchtet, als ihr bei der Ablösung in einen Feuerüberfall gerietet; dort in den verschlammten Granatlöchern haben manche von euch so fest dringesteckt, daß die Kameraden sie herausziehen mußten. Wißt ihr noch, wie in dem Laufgraben drüben manchem nicht nur, wie dem alten Varus2, zwei Stiefel und ein Strumpf, sondern auch die Hose verloren ging? Wie anhänglich dieser Champagneboden war! Er hing sich nicht nur pfundweise an unsere Sohlen, er drang uns nicht nur von oben in die Stiefelschäfte, sodaß die Füße wie einbetoniert waren, — er nahm uns auch in seine Umarmung, und diese Umarmung war so fest und zäh, daß es uns bei so viel Anhänglichkeit unheimlich zumute wurde. Aber wir wollen nicht ungerecht sein. Die Bosheit dieses Bodens war nur die Kehrseite seiner Tugend. Denn gerade, weil der Champagnestein so weich ist, daß er sich an der Oberfläche sofort in Schlamm verwandelt, machte er es uns auch leicht, uns in ihn hineinzuarbeiten. So tief ging‘s hinein, daß wir die 28 Zentimeter-Granaten und die dicken Minen in aller Seelenruhe über uns ergehen lassen konnten. Dieses Land hat uns nicht nur gegen Regen und Sturm gedeckt, sondern auch gegen das feindliche Feuer. In diesen Unterständen haben gute Kameraden Leid und Freud miteinander geteilt. Hier haben die Bilder eurer Frauen und Kinder, eurer Eltern und Bräute auf den selbstgezimmerten Tischchen gestanden und haben wie gute Geister die Schrecken schwerer Kampftage, die überschäumende Lebenslust, die nach ernsten Zeiten unter euch aussprühte, die Eintönigkeit langer, dunkler Wintermonate im vordersten Graben miterlebt.


  1. Als "Bauernschreck" wurden schnellfliegende englische Kampfflieger bezeichnet.
  2. Publius Quinctilius Varus, römischer Statthalter. Nach ihm wurde die Varusschlacht benannt, bei der die Germanen über die römischen Legionen im Teutoburger Wald siegten.

Persons: Varus, Publius Quinctilius · Veidt, Karl
Places: Argonnerwald · Bois de Ville · Champagne · Cernay · Dieusson · Kanonenberg · La Mare aux Boeufs
Keywords: Böden · Eichen · Friedhöfe · Granaten · Heimat · Kameradschaft · Monotonie · Verwandtschaft · Winter · Witterung
Recommended Citation: „Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917, Abschnitt 1: Emotionale Verbindungen zur französischen Landschaft“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/35-1> (aufgerufen am 19.04.2024)