Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Die Schulchronik von Kruspis, 1914-1920

Abschnitt 8: Ernteausgang und Rationierungen

[106-107]
Am 1. Februar 1915 stellte die Kommission fest, daß in unserem Dörfchen außerdem zur Ernährung seiner Einwohner erforderlichen Brotgetreide auch noch 310 Zentner Roggen und Weizen zur Ablieferung übrig waren. Auf 1 Person – Kinder unter 1 Jahr ausgeschlossen – wurden monatlich 18 Pfund Roggen und 12 Pfund Mehl gerechnet, so daß jedes Familienglied [S. 107] ½ Pfund Brot täglich zu verspeisen hatte. Wenn es auch anfänglich schwer fiel und mancher oder manche über zu knappe Portionen jammerte, allmählich gewöhnten sich alle ganz gut daran. Das für die Ernährung eines Haushaltes berechnete Brotgetreide verblieb demselben, wurde aber monatlich kontrolliert, damit nicht zu tief in den Sack hineingegriffen wurde. Auch waren sämtliche Mühlenbesitzer angewiesen, nur das Getreide zu mahlen, über welches eine Mahlkarte, die der Bürgermeister des Ortes auszustellen hatte, beigebracht wurde. Der Müller mußte vom Zentner Getreide 82 Pfund Mehl liefern. Meist wurden beim Backen unter dasselbe rohe Kartoffeln gerieben (½ Mehl, ⅓ Kartoffeln), und wir hatten jederzeit ein prächtiges Kriegsbrot. Wenn es einem früher als Lehrer oft recht wehe tat, sehen zu müssen, wie die Brotbrocken und zuweilen ganze geschmierte und belegte Stücke im Schulzimmer unter den Bänken umherlagen, nunmehr war die Mahnung: „Sammelt die übrigen Brocken, daß nichts umkomme" überflüssig geworden. Möge diese Zeit auch in dieser Hinsicht für unsere Jugend besonders recht lehrreich sein und bleiben.

Deutschlands wirtschaftliche Kraft wird in diesem Kriege auf die stärkste Probe gestellt; alles in allem hat die bisherige Kriegsdauer erwiesen, daß der deutsche Boden imstande ist, 70 Mill. Bewohner zu ernähren. – Offen gestanden, es hat uns manchmal gebangt. Als dieses Frühjahr bald nach der Feldbestellung längere Zeit der Regen ausblieb, die Saat sich so langsam entwickelte, die Kleeäcker und Wiesen dürre zu werden begannen, wurde unser Gottvertrauen auf schwere Probe gestellt. Es wurde im ganzen Lande ein besonderer Bittgottesdienst abgehalten und um Wachstum und Gedeihen der Garten- und Feldfrüchte zu Gott gefleht. Und er hatte Erbarmen, schenkte uns noch rechtzeitig erquickenden Regen. Infolgedessen durften sich unsere Landwirte noch einer recht hübschen Grummeternte1 erfreuen und Roggen und Weizen so reichlich ernten, wie es selten die Jahre vorher der Fall war. Nur der Hafer blieb kurz und lieferte sehr wenige und ganz leichte Körner. Die Ernte- und alle übrigen Feldarbeiten wurden auch wieder im Sommer und Herbst d. J. 1915 rechtzeitig und ganz gut ausgeführt. Einer diente wiederum dem anderen mit den Gaben, die zur Verfügung standen, ein erfreuliches Resultat des furchtbaren Krieges. Wollte Gott, es blieb aber auch nach demselben und stets so in unserem Dörfchen. – Kartoffeln gab es in diesem Herbst so dick und in solchen Mengen, daß die meisten Keller sich als zu klein erwiesen. An Getreide – Roggen und Weizen – lieferten bereits unsere 3 Gemeinden 1800 Zentner an „Hessenland" nach Cassel als erste und einstweilige Sendung. Oh England, wie hast du dich verrechnet! (ges. Gonnermann 15.12.15)

Im Winter 1915/16 war die Beleuchtung eine sehr mangelhafte; wir brannten meist nur Stearinkerzen, mit denen noch recht sparsam umgegangen werden mußte.

Auch legten wir uns eine Carbidlampe zu. Da das Ding jedoch schon am Abend des 5. Januar explodierte, wurde der vielversprechende Apparat a. D. gesetzt. Jeden zweiten Sonntag und an Feiertagen leuchtete uns eine Petroleumlampe, deren rosiges Licht dann in vollen Zügen genossen wurde. Notgedrungen mußte man so einen reinen Winterschlaf halten. Im Vorwinter strickten unsere Mütter und Töchter wieder fleißig, doch machte sich schon ein Mangel an Strickwolle bemerkbar; es kam das Pfund bereits aus 5 – 8 M. Wiederholt wurden im Laufe des Winters die sämtlichen Vorräte unserer Landwirte nachgeprüft und besonders strenge Kontrolle über den Roggenverbrauch geübt. Recht unangenehm war es für die Ortskommission, der auch ich angehörte, wenn sich Fehlbeträge ergaben. Es erfolgte entsprechend hohe Bestrafung, leider kamen auch hier zwei solcher Fälle vor. Nicht selten konnte ich auch beobachten, wie einer Hausmutter der Geduldsfaden riß und sie uns auf nicht gerade höfliche Weise empfing; zuweilen machten sie ihrem Zorn Luft, indem sie den Tränen freien Lauf ließen. Jeder Familie wurde eine Mahlkarte ausgestellt; es wurden bei Selbstversorgern jeder Person 9 kg Getreide pro Monat zugebilligt, Versorgungsberechtigte empfingen für dieselbe Zeit nur 7 ½ kg. Von dem Müller – für uns Ahlertsmüller2 – wurde gewissenhafte Buchführung verlangt; ohne Mahlkarte durfte kein Getreide zur Verarbeitung angenommen werden. Im zweiten Kriegsfrühjahr ging die Arbeit langsam vonstatten. Schwache Frauen, Mädchen und Kinder mußten viel Arbeit verrichten, die sonst von starken Männerhänden geleistet wurden. Man konnte von allen immer wieder die Antwort vernehmen: „Man muß wohl alles lernen, wenn der Mann, Vater, der Bruder im Kriege ist." Auf Wunsch erhielten viele Familien Kriegsgefangene zur Hilfeleistung, meistens Franzosen und Russen. Man war im großen und ganzen mit dem Betragen und den Leistungen der Leute recht zufrieden. Sie selbst schienen sich auch sehr wohl hier zu fühlen; oft konnte man sie am Sonntag abends auf der Straße singen und pfeifen hören. Die Franzosen empfingen öfters große Pakete von zu Hause, gefüllt mit Schokolade, Caffee, Zwieback, Zucker, auch Cognac und Wein.


  1. Grasmaht im Hochsommer.
  2. Ahlertsmühle.

Persons: Gonnermann
Places: Ahlertsmühle · England · Kassel · Kruspis
Keywords: Nahrungsmangel
Recommended Citation: „Die Schulchronik von Kruspis, 1914-1920, Abschnitt 8: Ernteausgang und Rationierungen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/24-8> (aufgerufen am 26.04.2024)