Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Die Schulchronik von Kruspis, 1914-1920

Abschnitt 3: Verdächtigungen und angespannte Stimmung

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Täglich, ja auch sehr oft des Nachts, liefen Telegramme der obersten Post- und Militärbehörden, der Regierung und des Landratsamtes, hier ein. Sie betrafen meist Straßenschutz, Überwachungsdienst und dgl. und mußten alsbald der Ortspolizeibehörde bekanntgegeben werden. Rühmend muß ich's hier aber bezeugen, daß ich unseren Bürgermeister Lötz nie verdrießlich befunden, selbst wenn ich ihn um Mitternacht aus seinem Bett heraustrommelte. Unwillkürlich wurde unser Auge immer mißtrauischer, man besah sich jeden Fremden genau. In der allgemeinen Aufregung kam es leider auch zu manchen Fehlgriffen. So nahmen die Stärkloser eines Tages einen jungen Lehrer aus Mengshausen, der einrücken sollte und, um seine neuen Feldstiefel etwas auszutreten, einen Marsch dorthin ausgeführt hatte, gefangen, schafften ihn, da sich derselbe auf mich berief, ans Telephon dort, und ich mußte nun Personenbeschreibung abgeben. Wenn schon der Eifer des öfteren sich in Übereifer verwandelte, mit Befriedigung können wir feststellen, daß es an keiner einzigen Stelle gelang, die deutsche Mobilisierung zu stören oder aufzuhalten. Alle Straßen, Bahnanlagen, besonders Bahnhöfe, Brücken und Tunnel wurden von sofort einberufenen und eingekleideten Reservisten, Landwehr- und Landsturmmännern streng mit geladenen Gewehren bewacht. Ganz besonders wurden auch die auf den Straßen verkehrenden Automobile beaufsichtigt. Da wir hier keine Schießwaffen besaßen, schoben wir meist 2 große Erntewagen quer über die Straße, einen am westlichen Ende des Dorfes und einen beim Spritzenhaus, um auf diese Weise die Fahrzeuge zum Halten zu zwingen. Das Vergnügen dabei auch mal einen recht guten Fang zu tun, wurde uns leider nicht zuteil. Der Bahnbetrieb stand nach der Mobilmachung fast ausschließlich im Dienste der Militärverwaltung. Nur 2 Züge ließen den Verkehr von Zivilpersonen zu, täglich ein Zug nach Bebra und einer nach Frankfurt. Die Zeitdauer einer Eisenbahnfahrt betrug das doppelte, ja sehr oft das dreifache der früheren. Wer deshalb nicht unbedingt reisen mußte, blieb am besten in seinen vier Wänden. Auf der Bahnstrecke Bebra – Fulda herrschte ein sehr starker Betrieb. Fast ohne Unterbrechung rollten sie Züge dahin, unsere mutigen Krieger nach Ost und West zu bringen. Täglich machte ich des Nachmittags einen Spaziergang auf den Bahnhof Neukirchen. Vorher wurde immer bekanntgegeben, welche Züge dort anhielten, und dann wurden die ausziehenden Streiter erquickt.


Persons: Lötz, Bürgermeister
Places: Bebra · Frankfurt · Fulda · Kruspis · Mengshausen · Neukirchen · Stärklos
Keywords: Militärverwaltung · Mobilmachung
Recommended Citation: „Die Schulchronik von Kruspis, 1914-1920, Abschnitt 3: Verdächtigungen und angespannte Stimmung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/24-3> (aufgerufen am 25.04.2024)