Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Die Schulchronik von Kruspis, 1914-1920

Abschnitt 2: Mobilmachung, 1. August 1914

[105-106]
Die Arbeit hatte den folgenden Tag - Sonnabend, den 1. August - obgleich es im Felde bei der Ernte tüchtig zu tun gab, keine rechte Art. Auch ich freute mich, daß Ferien waren, an ein regelrechtes Schulehalten wäre ja gar nicht zu denken gewesen. – So war es inzwischen 6 Uhr nachmittags geworden. Da rief mich ein nicht endenwollendes Läuten ans Telephon, und mit zitternder Hand nahm ich das so folgenschwere Telegramm der befohlenen Mobilmachung auf. Ich füge dasselbe im Original bei. – Alsbald schlug ich das so wichtige Aktenstück an den Straßengiebel des Wohnhauses des Joh. Diehl hier an und veranlaßte den Ortsdiener Lorenz Ellenberger, dessen Inhalt in ortsüblicher Weise der Gemeinde bekannt zu geben. Der hervorgerufene Eindruck war ein gewaltiger. Die zu Hause weilten, eilten auf die Dorfstraße, die Männer mit unerschütterlicher Ruhe, schweigsam, ernst; die weichherzigen, ängstlichen Frauen gruppierten sich – still weinend – zusammen. Die auf dem Felde beschäftigt waren, wurden nach Hause gerufen; sie lasen und lasen immer wieder die angeheftete Verordnung, als müßten sie sich jedes Wort derselben erst fest einprägen. Nun breitete sich eine eigenartige feierliche Stille über unser Dörfchen aus, und als schließlich die Glocken, für das Ohr heute ganz eigenartig tönend, den Sonntag einläuteten, blieb wohl kein Auge tränenleer, und die Herzen richteten sich empor und seufzten und flehten zu dem, der ja in der Not angerufen sein will und versprochen hat, dann zu erretten. So wurde dies ein Sonnabend-Abend, wie ich noch keinen in den 30 Jahren meines Hierseins verlebt habe.

Da einige unserer jungen Leute schon Sonntag-Abend sich in Hersfeld stellen mußten, wurde von Herrn Pfarrer Eisenberg vorher noch eine besondere Abendmahlsfeier abgehalten, an welcher sich sehr viele beteiligten. Ergreifend war es immer an den nun folgenden Tagen die Scheidenden abziehen zu sehen. Eltern, Frauen, Geschwister und Kinder ließen es sich nicht nehmen, den Einrückenden das Geleit zu geben. Schweren Herzens wurde sicher der Weg zu den streng bewachten Bahnhofsschranken zurückgelegt. Die ergreifenden Szenen, die es in den letzten Augenblicken hin und wieder dort noch gab, möchte ich hier nicht schildern. Besonders schwer fiel meistens dem Vaterherzen der Abschied von den sich fest anklammernden, laut weinenden Kleinen. Wenn dann die Lokomotive zu schnaufen begann, hüben und drüben, solange man sich nur noch sehen konnte, ein Rufen und Winken. Wir aber wünschten, daß sie alle, die da auszogen, den Sieg in Ost und West erstreiten und durch neue Heldentaten den Ruhm des deutschen Heeres mehren möchten. Die Namen [S. 106] aller unserer Streiter aufzuführen und Genaueres von jedem mitzuteilen, möchte ich mir gerne bis später aufheben. Der Eindruck, den der Befehl zur Mobilmachung in allen Teilen unseres Vaterlandes hervorrief, bewies, daß das deutsche Volk trotz der mancherlei innenpolitischen Differenzen während eines 43jährigen Friedens an vaterländischem Geist nichts eingebüßt hatte. Überall einhellige Begeisterung und starker Andrang freiwilliger Kämpfer. Jeder fühlte, daß es galt, nicht nur für das deutsche Vaterland, sondern auch für die deutsche Kultur zu kämpfen. Jeder wollte Gut und Blut dem Vaterlande opfern, und wie zur Zeit der Freiheitskriege wurden von überallher rührende Beweise der Vaterlandsliebe gemeldet.


Persons: Diehl, Joh. · Ellenberger, Lorenz · Eisenberg, Pfarrer
Places: Hersfeld · Kruspis
Keywords: Abendmahl · Abschied · Mobilmachung · Vaterland
Recommended Citation: „Die Schulchronik von Kruspis, 1914-1920, Abschnitt 2: Mobilmachung, 1. August 1914“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/24-2> (aufgerufen am 26.04.2024)