Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Klaus Wiedemann, Der Erste Weltkrieg aus der Sicht eines Kasseler Oberschülers, 1914-1918

Abschnitt 40: Gedicht "Zwölf gegen sechzig" (1)

[77-78] [S. 77]
Zwölf gegen sechzig.

Ein Patrouillenstückchen von Walter Felix1.

Zwölf gegen sechzig - fünf auf einen,
Das läßt sich hören, sollt' ich meinen.
Der Mann, dem das Stücklein soll gelingen
muß mit zehn Fingern zehn Hände zwingen!
Ein Finger gegen die ganze Hand - ?
Fragt nicht lang! Setzt Euch und horcht gespannt!

Das russische Land lag tief im Schnee,
Dumpf knurrte das Eis im Sagatschsee2 ...
Im Seewald, vom Fichtendunkel gedeckt,
Lag seit Wochen ein Russenhaufe3 versteckt.
Der war bei Tag und Nacht auf den Posten,
Und ließ uns von seinen Bohnen4 kosten.
Kaum hob man den Kopf über'n Grabenrand,
Pfiff einem die Kugel ums Mützenband.

Das ging so ein Weilchen, man nahms in Kauf
Und hielt sich nicht lang' bei dem Ärger auf
Doch als ein paar böse Treffer gelungen,
Da riß die Geduld meinen grauen Jungen
Und Peter Meyer der Reservist
Ersann einen Kriegsplan voll grober List.
Und knurrte verächtlich: "Das wär zum Lachen!
Der Russenwald braucht groß Reinemachen
Wir schaffens heut Nacht und schmeißen den Kitt,
Ich weiß auch schon wie, - aber wer macht mit?
Da zog manch einer den Rauch durch die Lunge
Und spuckte und sagte nur: Junge, Junge!
[S. 78]
Elf Kerls, aber junge Rekruten
Wären bereit zu allem Bösen und Guten.
"Elf Hammel und ein alter Knochen,
"Die schaffens", hat Peter Meier gesprochen.
Dann hat er die Pfeife ausgeklopft
Und bedächtig eine neue gestopft:

So sank die Nacht über Feld und See
Und als der Mond hintern Hügel schwand,
Da krochen die zwölf aus dem Unterstand.
"Nun nicht mehr lange am Ofen gewärmt!"
Gewehr im Arm, ohne Sack und Pack
Ein paar Kugelgranaten im Mantelsack.
Pst - ! Leise! Erst einmal gelauscht und gewittert
Nun frisch auf den See und hinübergeschlittert!
Im Hui, als winke ein Eislauf-Preis,
Geht's über das windgefegte Eis.
Dann schlagen sie um den Teufelswald
Einen großen Hacken und machen Halt.
Peter Meier weiß als Reservist
Was Strategie und Tattik ist.
Drum als Schützenlinie legt er zwei
Mann hier in eine lange Reihe.
Läßt sie zurück und befiehlt den beiden
"Ihr werdet den Feind den Rückzug abschneiden!
Zwei sind zu wenig? Gebt nur Ruf',
Ich stell' Euch noch im paar Helme dazu.
Zwei Mann und sechs Helme - jetzt seid Ihr acht,
Und habt strategisch die Übermacht".....


  1. Walter Flex (1887-1917), Soldat und bekannter nationalistischer Schriftsteller und Lyriker, u. A.: "Der Wanderer zwischen beiden Welten"
  2. vermutlich der Naratsch-See im Nordosten Weißrusslands. Hier fand ab dem 18.3.1916 im Rahmen der Frühjahrsoffensive die im Gedicht beschriebene, für die kaiserlichen Truppen siegreiche Schlacht statt.
  3. Haufe: Verband von Soldaten
  4. blaue Bohnen (sprichwörtlich): Schusswaffenmunition

Erläuterungen: Das Gedicht ist in Buchausgaben von Walter Flex' Werken nicht abgedruckt. Möglicherweise hat es Wiedemann in einer Zeitung gefunden, zum Beispiel der Täglichen Rundschau. Im Nachhinein ist das schwer nachzuvollziehen.
Personen: Wiedemann, Klaus · Flex, Walter · Meier, Peter
Orte: Russland · Weißrussland · Naratsch-See · Narotsch-See
Sachbegriffe: Kriegslyrik · Schlacht am Naratsch-See · Schützengraben · Reservisten · Rekruten · Kugelhandgranaten
Empfohlene Zitierweise: „Klaus Wiedemann, Der Erste Weltkrieg aus der Sicht eines Kasseler Oberschülers, 1914-1918, Abschnitt 61: Gedicht "Zwölf gegen sechzig" (1)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/13-40> (aufgerufen am 05.05.2024)