Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Klaus Wiedemann, Der Erste Weltkrieg aus der Sicht eines Kasseler Oberschülers, 1914-1918

Abschnitt 38: 5. Kriegsanleihe (2)

[74-75] [S. 74]
Eine intressante Frage, die sich eigentlich jeder Zeichner vorlegen müßte, heißt „Wo kommt unser Geld hin.“ Diese Frage ist an einen im Felde stehenden Kanonir1 recht schön zu zeigen.

Der Kanonier Mittermeister ist nicht nur ein guter Kanonier, sondern auch ein gesuchter Barbier. Er hat in Ausübung seines friedlichen Gewerbes unter seinen Kameraden in den letzten drei Monaten 100 Mark erspart. Mit diesen 100 Mark zeichnet er Kriegsanleihe. Das Geld schickt der Zahlmeister an die Zeichnung, die Reichsbank gibts dem Reichskanzler, der Reichskanzler dem Kriegsminister, der Kriegsminister läßt für das Geld eine Granate machen, eine Granat größeren Kalibers.

Zu diesem Zweck kauft er von der Rohstoffzentrale in Berlin für

3 Mark Metall,
4. Mark chemische Stoffe zur Sprengladung,
3 Mark Aluminium für den Zunder,
2 Mark Messing für die Kartusche
8 Mark Kohle, Schwefel und Salpeter.

macht zusammen 20 Mark. Das ist alles. Und dennoch kostet die Granate 100 Mark. Wo sind die fehlenden 80 Mark des Kanoniers Mittermeier geblieben? Zwanzig Mark haben die Unternehmer erhalten, der Bergwerksbesitzer, der Besitzer der chemischen Fabrik, der Dynamitfabrik, der Pulverfabrik, der Metallfabrik. 60 Mark sind in Löhnen aufgegangen. Der Eisen- [S. 75] gießer, der den Stahl geschmolzen, der Arbeiter der die Hülle gezogen, der Deher, der sie abgedreht, der Polirer, der sie glatt gemacht, der Gewindeschneider, der die Gewinde geschnitten, der Mechaniker, der Kopf und Boden verpaßt, die Arbeiter, die die Sprengladung gemischt, die Mädchen, die die Zünder gefertigt, der Laborant, der die Geschosse gefüllt und die Zünder eingesetzt, der Maler, der das fertige Geschoß angemalt hat - sie alle haben an den 60 Mark des Kanoniers Mittermeier ihr Teil. Die Löhne sind zurzeit hoch, eine Dreher verdient leicht seine 10 Mark, ein Mädchen, das Zünder fertigt, seine 5 Mark am Tage. Und was machen diese fleißigen Leutchen mit dem Gelde. Ein großer Teil davon wandert in die Sparkasse.

So sind die 100 Mark des Kanoniers Mittermeier im Kreise gewandert und haben nebenbei hunderten von Menschen Arbeit und Brot gegeben. Und das kann ihm ein Trost sein: Wenn er durch Zufall die Granate zu verschießen hätte, die der Kriegsminister von seinem Geld hat machen lassen, so weiß er, daß nicht 100 Mark hinüberfliegen zu dem Engländer, sondern nur 20 Mark. Das ist ein Trost [eingefügt: nicht nur] für ihn, sondern auch für uns.


  1. Kanonier: unterster Dienstgrad der Artillerie

Personen: Wiedemann, Klaus
Orte: England
Sachbegriffe: Reichskanzler · Kriegsminister · Kanoniere · Reichsbank · Kriegsanleihen · Kriegsfinanzierung · Patriotismus · Barbiere · Zahlmeister · Granaten · Rüstungsindustrie
Empfohlene Zitierweise: „Klaus Wiedemann, Der Erste Weltkrieg aus der Sicht eines Kasseler Oberschülers, 1914-1918, Abschnitt 6: 5. Kriegsanleihe (2)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/13-38> (aufgerufen am 01.05.2024)