Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 28: Granatfeuer in den Schützengräben bei Langemark

[373-374]
Im Schützengraben! Wer hat früher das Wort gekannt, das heute den ganzen Krieg charakterisiert! Mitte September, nach dem großen strategischen Rückzug der deutschen Armee1, die schon dicht vor Paris stand — ein Rückzug, dessen Akten heute noch nicht einzusehen sind — setzte dieser Festungskrieg im Felde ein, weit langwieriger und hartnäckiger, als der Kampf um die Festungen, die in kurzer Zeit gebrochen wurden.

Von Ypern im Bogen bis an die Dünen der Nordsee zieht sich über die Höhe von Langemarck die Grabenanlage, mit der wir den aus Franzosen, Engländern, Belgiern und alle dem helfenden Gesindel bestehenden Gegner zusammenpressen wollen.

Die Gewehre liegen drohend auf der Grabenbrüstung, daneben ein Handvorrat an Geschossen. Wer nicht Auslug hält, liegt im Graben, in dessen Wände so gut es geht Unterstände gebaut [S. 374] sind, mit Türen und Brettern gedeckt, der Boden mit Stroh ausgelegt. So harren wir aus Tag und Nacht im stärksten Granatfeuer.

Kaum steht noch eins von den verstreuten Häusern an der Straße hinter uns. Nur auf der Höhe der ausgebrannte Windmühlenturm ragt nach wie vor in die Höhe und gibt der Gegend ihr Gepräge. Links von uns in der Ferne nebelumwoben in einer Senke das uralte Ypern mit seinen mächtigen Türmen und weit sichtbaren kostbaren Tuchhalle. Vor uns Langemarck, im Vordergrunde ein kleines Haus und etwas zurück bei hohen Pappelgruppen ein Gehöft, an das sich die Stellung des Gegners anlehnt.

Morgens und am Spätnachmittag ist das Granat- und Schrapnellfeuer von drüben am stärksten. Ein Flieger fährt über unsere Stellung, alles drückt sich auf den Boden, umsonst, er hat uns entdeckt, schlägt den verhängnisvollen Winkel, der seiner Artillerie das Ziel gibt, wirft sogar eine Bombe ab, die zum Glück wirkungslos krepiert, und nicht lange darauf hebt's am Bum, bum, ... Bauz, Krach! . . .

Einmal ist das Granatfeuer fürchterlich: in dreiviertel Stunde achtzig Granaten in unmittelbarer Nähe. Jedesmal vier Schuss gibt die Batterie ab: dicht hintereinander schlagen sie ein. Wie sie streuen! Von links kommt's näher, kein Fleckchen wird verschont. Und wir liegen da und zählen ... jetzt, jetzt kommst du dran, du . . . Wieder Krach! Bum! ein markdurchdringender Schrei! Eine Granate hat in den Graben geschlagen: 6 Tote, gräßlich zerrissen. Ein Wimmern und Röcheln... Stille... vorbei. Unser Sanitätsunteroffizier bricht zusammen bei dem Anblick. Beherztere, mit stärkeren Nerven haben sie bei Nacht weggeschafft. Man muß starke Nerven haben im Granatfeuer. Schum, Bum ... Krach, Bauz ... Schum ... Wir kriechen immer mehr in uns zusammen: der Luftsturm reißt das letzte Laub von den nahen Bäumen.... Das Geschoß, das wir sausen hören, schadet nichts mehr, ist schon über uns weg ... Schum, Bum! - Krach! ... Es ist, als ob die Hölle losgelassen sei.... Jetzt trifft's dich, jetzt ... Und du wirst ganz still. ... An dir liegt ja nichts, aber Ihr Lieben daheim, wie Ihr Euch härmt und grämt und ... Gott, Gott im Himmel, wenn's sein muß: dann einen kurzen Tod . . . o, die Verstümmelungen! ... Und Ruhe kommt über mich und schöne Bilder aus andern Tagen ziehen vorüber....

Wieder erscheint ein feindlicher Flieger in den Lüften, diesmal aber kommen ihm zwei deutsche entgegen: ein Kampf in den Lüften! Doch bald ergreift der andere die Flucht und verschwindet im Nebel, in dem über den Seinen ein runder Fesselballon auf- und absteigt. Stumm ragt in unserm Rücken die Mühle. ... Merkwürdig, daß doch so wenig Granaten treffen nur zweimal schlugen sie in unsern Graben ein; dann allerdings furchtbar. Und seltsam, was der Feind eine Menge Blindgänger hat.

Endlich bekommen wir auch mehr schwere Artillerie, die von weither über uns weg ihre Bomben gegen den Feind schleudert. Wie gern haben wir die uns zu Häupten hinrauschen hören, und wo die einschlugen, wie das dröhnte! ... So sahen wir den Kirchturm von Langemarck stürzen... Eines Nachts — wir lagen etwas hinter dem Frontgraben in tiefen Erdlöchern in ruhiger Bereitschaft — mußten wir Feldgeschütze eingraben helfen, die am andern Tag das Gelände vor uns und besonders jenes Gehöft in Trümmer schossen.


  1. Dem angeordneten Rückzug nach der Marneschlacht Mitte September 1914.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Paris · Ypern · Nordsee · Langemark
Sachbegriffe: Schützengräben · Rückzug nach der Marneschlacht · Stellungskrieg · Franzosen · Engländer · Belgier · Gewehre · Granatfeuer · Schrapnells · Flugzeuge · Bombenabwürfe · Gefallene · Sanitäter · Luftkämpfe · Fesselballons
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 2: Granatfeuer in den Schützengräben bei Langemark“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-28> (aufgerufen am 30.04.2024)