Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 30: Sturmangriff aus dem Schützengraben

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Dann, Sonnabend den 31. Oktober: Wir haben's geahnt, und mancher sich darauf gefreut, einmal wieder die Glieder recken und strecken zu können, die des Nachts vor Kälte im engen, feuchten Graben erstarren. Kamerad C., der erste Ritter vom Eisernen Kreuz in unserer Kompagnie, überbringt unserm Hauptmann, der das Bataillon führt, den Befehl: „Um 2 Uhr geht's zum Sturm vor." Noch eine Stunde ist's bis dahin. O, diese eine Stunde; wie die quält und zermürbt. . . .

Schlag 2 Uhr geht's vorwärts. Kaum haben sich die Kompagnien entwickelt, als uns auch schon der Gegner mit wütendem Feuer empfängt. Langsam arbeiten wir uns heran. Da setzt ein alles vernichtendes Granatfeuer ein. Besonders trifft's die vierte Kompagnie, die gerade jenen Hopfengarten durchschreitet, den wir schon einmal am 23. durchquerten. Grauenhaft schlagen die Granaten links von uns ein, wie eine schwarze Wolke lagert es über dein Garten, in der es flammt und dröhnt und kracht von platzenden Granaten und zersplitterten Balken; und Wehschrei und Lärm und Feuer der Infanterie. . . . Wie die zweite und unsere dritte Kompagnie am 23., so hat hier am 31. Oktober die vierte Kompagnie die schwersten Verluste gehabt, unter diesen ihren Führer, wie denn auch bald der Hauptmann der ersten Kompagnie gefallen ist.

Ra - dada - dia! Seitengewehr pflanzt auf. Langsam haben wir uns an den ersten Graben heran- gearbeitet, der sich an jenes schon oft erwähnte Gehöft anlehnt. Ohne allzu große Verluste ist's uns gelungen; der Gegner hat meistens über uns hingeschossen. Sprung auf! Hurra! Wir auf den Graben los. . . . Kaum sieht uns der Feind so andringen . . . hupp, hupp! heraus aus dem Graben und das Weite gesucht. Nur wenige Tapfere halten Stand, sie fallen unter unserm Bajonett in kurzem Handgemenge. . . . Wir über den Graben hin . . . aber weit kommen wir nicht mehr. Ein mörderisches Feuer und diesmal besser gezielt hält uns auf; zudem hindern uns Hecken und Stacheldraht sehr am Vordringen.

Wir erhalten Befehl zum Einbuddeln. Und im stärksten Feuer graben wir uns hinter einer Deckung gegen Sicht bietenden Hecke ein. Wie manchem ist der Spaten vom Tod aus der Hand genommen, und doch hat jeder mit äußerster Anstrengung gearbeitet: es galt das Leben. ... Es ist so anders, das Sterben nur vom Hörensagen kennen, und selbst den Tod um sich brausen zu fühlen. ... Da arbeiten sie, hoch und niedrig, und sind alle gleich arm und reich in dieser Stunde und haben nur einen Wunsch. . . . Das ist der Krieg, der das Leben so lieb macht wieder, wie er's verachten lehrt. . . .

Gegen Dämmerung läßt das feindliche Feuer nach, und wir sind auch so weit, daß wir einen schmalen Graben ausgehoben haben, in dem wir uns die Nacht wohl halten können. . . . Drüben hinter der Hecke röchelt einer noch ganz leise. . . .

Auf den Tornister gekauert, die Knie ineinanderverschränkt, so hockt Mann an Mann gedrängt in dem engen Graben, und mit tief auf die Brust gesunkenem Kopf schläft alles, so gut es geht in dieser mondhellen, bitterkalten Novembernacht.


Personen: Weidemann, Wilhelm
Sachbegriffe: Schützengräben · Sturmangriffe · Granatfeuer · Granaten · Infanterie · Seitengewehre · Bajonette · Stacheldraht · Nahkampf · Verwundete · Tornister
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 2: Sturmangriff aus dem Schützengraben“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-30> (aufgerufen am 29.04.2024)