Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 31: Verwundung im Schützengraben

[375-376] Um Mitternacht muß ich mit meinem Kameraden L. auf Posten. Hinter einem Pappelstamm stehend luge ich in die Nacht hinaus. Vor mir auf der Wiese liegen ein paar tote Kühe mit hochgeschwollenen Bäuchen, nicht weit davon zwei tote Franzosen, ihre blassen Gesichter sehen im Mondenschein noch bleicher und spitzer aus. Links im Hintergrund glühen gleich Riesenaugen zwei brennende, kohlende [S. 376] Häuser mich an, und drüben auf dem perlenden Wiesengrunde weiden fünf oder sechs Rinder. Tiefe Stille ringsum, kaum in der Ferne ein Schuß, nur von Zeit zu Zeit rufe ich leise meinen Kameraden an.

Der Mond mit seinem leichten Hof sah so still und friedlich nieder, daß mir's so seltsam ums Herz schlich wie noch nie. Zum ersten Male vielleicht, daß all das Erlebte mich zusammendrückte, habe ich ein so wildes Heimweh bekommen, so weh ist's mir noch nie im Leben gewesen, da ich an Euch auf stiller Wacht gedachte, daß mir eine Träne in den wirren Kriegsbart rann. . . .

Sss . . . dicht an mir saust die Kugel vorüber. Im Augenblick ist alles Sinnen und Sehnen verflogen ! Ssss . . . wieder und dichter wie mir deucht vorbei. „Mensch, geh hinter dem Baum weg", ruft mir der andere zu. Und schon werfe ich mich platt auf den Bauch und krieche eilig weg. Sausend fährt's zum dritten Male über mich hin; dann ist alles still wie zuvor. Der versteckte Schütze hatte meinen Schatten auf der Wiese gemerkt, den der steigende Mond auf das Gras warf, ohne daß ich selbst von dieser veränderten Beleuchtung etwas beobachtet hätte. . . .

Um 2 Uhr ward ich abgelöst. Doch kaum war ich in übergroßer Müdigkeit eingenickt, als wir plötzlich ein starkes Feuer erhielten, das wir beinahe eine Stunde lang erwidern mußten, bis der Gegner zurückwich. . . .

So stieg im Nebel und Morgenrot die Sonne des ersten Novembers am Sonntag Aller-Heiligen auf. Ungehindert hatte Artillerie in der ersten Dämmerung ein Geschütz heranbringen können, das nun wie einige Maschinengewehre unsere Stellung verstärkend eingegraben wurde. Wir selbst waren zum Teil in den erbeuteten französischen Graben zurückgekrochen, und bei der schönen, klaren Novembersonne hatten wir die liegengelassenen französischen Tornister durchstöbert und alle die Dinge herausgekramt, unter denen die Fleischkonserven und Ölsardinen doch eigentlich das Wertvollste waren. Bald aber mußten wir auf der Hut sein, denn drüben fing die Gesellschaft an, wach zu werden und auf jeden Mann, der sich bei uns zeigte, zu schießen.

Ich war an diesem Tage als Gefechtsordonnanz bestimmt, und da nichts zu tun war, las ich unserm Feldwebel und den beiden Offizierstellvertretern aus meinem Tagebuche vor. Schließlich erhielt ich Auftrag, vom zweiten und dritten Zuge Leute zum Postabholen herbeizurufen. Unser Schützengraben war, wie ich schon erzählt habe, hinter einer Hecke, die eine Wiese umfriedigte. Diese Hecke wurde an einer Stelle durch ein breites, zweiflügeliges Staketentor unterbrochen, und an dieser Stelle setzte auch unser Schützengraben aus, um erst drüben mit der Hecke wieder zu beginnen. Selbstverständlich beobachteten die Rothosen drüben eifrig diese Lücke, die ich mich jetzt anschickte, mit drei oder vier Sprüngen zu nehmen. Also los: Ssss... Ssss ... Ssss ... Eine ganze Salve feuern sie drüben auf 100 Meter Entfernung ab, und gerade will ich in den Graben drüben springen, als ich einen Hieb gegen meinen rechten Unterschenkel erhalte, wie einen kräftigen Steinwurf, so daß ich zusammenbreche. „Ich bin getroffen!" Mit den Worten wälze ich mich noch schnell in den Graben hinein, und schon fühle ich einen stechenden Schmerz und spüre, wie es mir heiß in den Stiefel rinnt. ... Vergebens suche ich mich aufzurichten, das Bein versagt den Dienst. . . . Schnell schneiden mir Kameraden den Stiefel ab und verbinden mich mit dem Verbandspäckchen. Doch will es nicht zu bluten aufhören und die Lache wird immer größer, so daß schließlich irgendwo der Unterarzt aufgetrieben wird, der nur das Bein unterbindet, weil eine Hauptader durchschlagen sei. Aber geblutet habe ich trotzdem noch tagelang. . . .

Das war so zur Zeit, daß daheim die Glocken zur Kirche geläutet haben, wo ich mit meinem Blute flandrische Erde tränkte. . . .


Personen: Weidemann, Wilhelm
Sachbegriffe: Kadaver · Leichen · Franzosen · Kriegsbärte · Artillerie · Maschinengewehre · Schützengräben · Tornister · Konservendosen · Feldwebel · Tagebuchschreiben · Tagebücher · Verwundungen
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 14: Verwundung im Schützengraben“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-31> (aufgerufen am 01.05.2024)