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Tausende Studierende aus Hessen protestieren in Frankfurt gegen das geplante Hochschulrahmengesetz des Bundes, 1. Dezember 1971

In Frankfurt am Main demonstrieren etwa 3.000 Studierende gegen die Einführung einer Rahmengesetzgebung des Bundes für die deutschen Hochschulen. Etwa 600 Teilnehmer der Veranstaltung sind aus den hessischen Universitätsstädten Marburg, Gießen, Kassel und Darmstadt angereist. Ausgangspunkt der Demonstration ist das Messegelände. Von dort führt der Weg des Demonstrationszuges über Hauptbahnhof, Kaiserstraße und Zeil bis zur Konstablerwache. Eine Abschlusskundgebung findet an der Hauptwache statt.

An allen wichtigen Universitätsstandorten in der Bundesrepublik haben zahlreiche studentische Organisationen zu Protestkundgebungen gegen die geplante Einführung eines Hochschulrahmengesetzes auf Bundesebene aufgerufen. Die im Frankfurter AStA vertretenen linksgerichteten Gruppierungen Sozialdemokratischer Hochschulbund (SHB), Kommunistischer Studentenverband („Rote Zellen“), Marxistischer Studentenbund Spartakus, KSG/ML (Maoisten) und der Kommunistische Studentenbund argumentieren, dass der Regierungsentwurf in erster Linie der „politischen Disziplinierung der Studierendenschaft“ diene und in ihren Augen eine sinnvolle Ausbildung verhindere.1 Im Vorfeld der Veranstaltung war es zunächst allerdings zu Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Linksgruppen gekommen (vgl. dazu eingehender Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.12.1970, S. 39).
Der Aufruf zu den Protestkundgebungen am Freitag, den 26. November 1971 bildete den Höhepunkt und Abschluss einer bundesweit an allen wichtigen Universitätsstandorten abgehaltenen Veranstaltungsreihe über die rahmengesetzliche Regelung des Hochschulrechts, deren Richtlinien vor kurzem im „Ständigen Ausschuss für Lehr- und Studienfragen“ an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität diskutiert wurden. Während sich die Mehrheit der Gremiumsmitglieder für die von der Kultusministerkonferenz herausgegebenen Richtlinien aussprach opponierten die Vertreter aller linken Gruppierungen heftig dagegen. In ihrem Aufruf unterstreicht die gewählte Studierendenvertretung der Johann-Wolfgang-Goethe Universität ihre Auffassung, dass die Studierendenschaft von der einheitlichen Regelung des Hochschulrechts durch das im Entwurf vorliegende Hochschulrahmengesetz in erster Linie eine „allgemeine Disziplinierung, Reglementierung der Studiengänge und Fremdbestimmung der Studieninhalte durch Einflußnahme der Industrie“ zu erwarten habe. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bewertet die Kampagne der Allgemeinen Studierendenausschüsse im Sinne einer manifesten politischen Subversion (teils radikaler) linker Gruppierungen: zwar arbeite der Frankfurter AStA bei seiner Kritik an den Richtlinien der Kultusministerkonferenz „vorwiegend mit hochschuldidaktischen Argumenten“, doch seien die anhaltenden Auseinandersetzungen und Aufrufe zu „Kampfmaßnahmen“ („den Konflikt ‚in jede Vorlesung und in jedes Seminar‘ zu tragen“ – vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.1971, S. 25) „zweifelsohne politisch motiviert“. Mit der Besetzung von Tutorenstellen sei es der studentischen Linken gelungen, „eine Vielzahl von Stellen im Lehrbereich der Hochschulen für ihre Sympathisanten zu sichern“. Damit habe die Linke „nicht nur Sprungbretter für Stellen im eigentlichen Lehrkörper der Universitäten“ besetzt, „sondern sich auch die Möglichkeit erhalten, über Tutoren, die meist Anfängerveranstaltungen betreuen, politischen Einfluß auf die Studienanfänger auszuüben.“ (zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.1971, S. 25)

Hintergründe

Zentrale Bedeutung besitzt für die Frankfurter Studierendenvertreter insbesondere die drohende Beschneidung der mit Inkrafttreten des Hessischen Universitätsgesetzes vom Mai 1970 etablierten halbparitätischen Mitbestimmung der Studenten am Tutorenprogramm. Eine vergleichbare Regelung existiert bereits seit 1969 mit der Einrichtung einer sogenannten halbparitätischen Institutionsversammlung an der Freien Universität Berlin, der nicht nur der gesamte Lehrkörper des Seminars, sondern auch eine gleiche Anzahl von Studenten stimmberechtigt angehören. Dies habe dazu geführt, so eine „Notgemeinschaft für eine Freie Universität“ in ihrer am 9. Oktober 1970 vorgelegten Studie, dass linksradikale und marxistische Kräfte einen bedeutenden Teil der Stellen für studentische Hilfskräfte, wissenschaftliche Hilfskräfte und Tutoren belegt hätten und einen folgenschweren organisatorischen und ideologischen Einfluss auf den Lehrbetrieb ausübten – bis hin zum Boykott der etablierten professoralen Veranstaltungen. Der vom Wissenschaftsministerium ausgearbeitete Referentenentwurf zum Hochschulrahmengesetz (vom 1. Juli 1970), an dem sich die Richtlinienempfehlungen der Kultusministerkonferenz orientieren, sieht demgegenüber vor, die bislang autonom von studentischer Seite geführten Tutorien, die in der Praxis vielfach als „Gegenveranstaltungen“ zu den etablierten Seminaren und Vorlesungen der Professoren abgehalten werden und besonders Studienanfänger ansprechen sollen, künftig wieder unter die Verantwortung eines Hochschullehrers zu stellen. Das Vorschlagsrecht für die Tutorenauswahl und die Bestimmung über Form und Inhalt der von den Tutoren betreuten Lehr- und Lehrbegleitveranstaltungen soll gemäß den von der KMK verabschiedeten Richtlinien bundeseinheitlich alleinige Sache der Hochschullehrer sein (damit entspricht der Referentenentwurf einer Forderung, die der Bundesminister für Forschung und Wissenschaft, Prof. Dr. Hans Leussink (1912–2008), in seinen am 5. Februar 1970 vorgelegten „14 Thesen“ vertreten hatte, nämlich die an den Hochschulen in Forschung und Lehre beschäftigten Personen weiterhin von den Weisungen vorgesetzter Professoren abhängig zu machen. Dies widersprach diametral der von Studierenden und Assistenten an den Hochschulen mit Nachdruck eingeforderten „Demokratisierung“ von Forschung und Lehre in Form einer Abschaffung eben jener überkommenen Abhängigkeitsverhältnisse).
(KU)

1) [ANMERKUNG:] Der Bundesminister für Forschung und Wissenschaft, Hans Leussink, sah sich 1970 vielfach dem Vorwurf der Linken ausgesetzt, die Reform der Hochschulen vorrangig im Sinne einer Anpassung an die „Erfordernisse der modernen Wirtschaft“ zu betreiben. Eine Hochschulzeitschrift stellte den Minister mit den Worten vor: „Wie Stoltenberg hat Leussink enge Beziehungen zur Industrie und gleich noch zum selben Unternehmen. Er gehörte dem Kuratorium der Kruppstiftung an, …“ Die im Frühjahr 1970 sowohl von linken als auch von (teils erz-) konservativen Interessengruppierungen aus dem Hochschulspektrum fast unisono abgelehnten, und vom Vorsitzenden der Bundesassistentenkonferenz (BAK) Tilman Westphalen als „technokratische Rationalisierung der total verrotteten Bildungsmaschinerie“ (vgl. DER SPIEGEL 18/1970, 27.4.1970, S. 114: Hochschulen / Leussink-Thesen: Drei Sätze (eingesehen am 19.10.2016)) bezeichneten „14 Thesen“ Leussinks, die unter anderem eine Verkürzung der Studiengänge einzelner Fächer auf drei Jahre fordern, fanden tatsächlich vor allem in deutschen Unternehmerzeitschriften Zustimmung. So äußerte zum Beispiel der „Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts“ anerkennend: „Die Wirtschaft wird es begrüßen, schon nach drei Jahren berufsfähige junge Menschen in die Unternehmen zu bekommen.“ „Der Arbeitgeber“, das Organ der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, pflichtete ebenso der Forderung nach Studienzeitverkürzung bei. Leussink „verdiene Zustimmung“, weil er den Blick „auf die Verbesserung der Effizienz der Universitäten konzentriert und zum Beispiel den Demokratisierungskomplex beiseite läßt“. (zitiert nach DER SPIEGEL 18/1970, 27.4.1970, S. 114)
(KU)


  1. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.12.1971, S. 39.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Tausende Studierende aus Hessen protestieren in Frankfurt gegen das geplante Hochschulrahmengesetz des Bundes, 1. Dezember 1971“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1305> (Stand: 1.12.2022)
Ereignisse im November 1971 | Dezember 1971 | Januar 1972
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