Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 29: Leben und Tod in den Schützengräben

[374-375] Dann, die Nacht vom Diestag [!] auf Mittwoch, war's wohl; es hatte geregnet und der Graben war mit Lachen durchzogen, daß wir Reisig aufgelegt hatten, um einigermaßen trocken zu stehen: alles feucht und an Schlaf kaum zu denken. Da, um Mitternacht, Bewegung unter den Wachtmannschaften: vor uns im Rübenfeld, regt sich's da nicht verdächtig? Schatten, ducken, springen ... Und schon kracht's drüben bei der zweiten Kompagnie! Im Nu steht alles an seinem Platz, und ein Feuer hebt mächtig los gegen den andringenden Feind. Immer weiter wächst die Feuerlinie, immer näher stürmt der Gegner. Unsere Maschinengewehre setzen ein: tak, tak, tak — 600 Schuß in der Minute — Da bricht der Angriff im mörderischen Feuer zusammen, und schnell flutet der Gegner zurück, von uns noch mächtig überschüttet. Am andern Morgen lagen nur Tote vor uns, die Verwundeten hatte der Feind sämtlich bergen können. Es war das 93. und 96. französische Linienregiment gewesen, wie wir später aus den Soldbüchern der Gefallenen feststellten, die meistens aus der Gegend der Pyrenäen stammten.

Am Tage durften nur so wenig wie der Gegner den Kopf allzuweit über den Grabenrand heben, sofort pfiffen und knallten die Kugeln: Pinah!... Ssss ...! Dann lagen wir am Boden und hatten oft fürchterliche Langeweile und schrieben Karten nach Hause und warteten, bis uns Kameraden von der Feldpost Sendungen herbeibrachten: das waren jedesmal die schönsten Momente; o, wie freut man sich draußen über jeden, auch den kürzesten Gruß aus der Heimat. ... Schließlich hatte einer von denen, die keine Ruhe haben und überall herumstöbern müssen, meist mit Erfolg, irgendwo ein Grammophon aufgetrieben und mit in den Schützengraben gebracht, und nun hatten wir das schönste Konzert, bis wir die eine Platte mit dem neusten [S. 375] Pariser Chanson so oft ableierten, daß der Stift stumpf geworden war und schließlich das Lied verstummte. ... So ist der Mensch: da platzen die Granaten und hier singt er: „Freut euch des Lebens . . ."

Und wie die Franzmänner mit ihrer planlosen Schießerei das Zubringen des warmen Essens bei Tage unmöglich machten, ja selbst die ganze Nacht über uns mit Salven bestrichen, so haben wir ihnen eines Tages auch einmal gründlich die Mahlzeit verdorben. An einem sonnenhellen Mittag kommt hinter dem Gehöft vor uns ganz fidel ein Schwarm Rothosen hervor, mit Armen und Beinen gestikulierend, offensichtlich in unbändiger Heiterkeit, in ihrer Mitte tragen zwei Mann an einer Stange einen dampfenden Suppenkessel. Das ist doch zu stark! So offen sich zu zeigen bei hellem Tage! (Vielleicht, daß die Franzosen es selbst nicht gemerkt haben bei ihrem Scherzen.) Schnell die Gruppe, der ich angehöre, zum Schuß fertig und mal kräftig in die Schar hineingehalten. Prächtiger Erfolg: die Kesselschlepper stürzen und was von den übrigen nicht getroffen ist, läuft, als ob der Teufel hinter ihnen wäre. ... Und noch ein Stücklein: Andauernd schlagen die Kugeln in unsern Graben, daß wir uns gar nicht mehr sicher fühlen. Wo mag nur der Schütze stecken? Alle Augenblicke: zschick, knack! in die Brüstung. Nirgends ein Feind zu sehen. Auf einmal der Unteroffizier D.: „Da drüben in der Pappel halbrechts, da ist's nicht in Ordnung!" — Glas her, und tatsächlich sitzt so ein unverschämter Kerl in der Baumkrone und feuert nach Herzenslust auf uns. Die Knarre hoch gerissen: nach dem dritten Schuß stürzt ein schlagender Körper in die Tiefe. ... Das war doch auch zu unverfroren. —


Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Pyrenäen
Sachbegriffe: Schützengräben · Maschinengewehre · Verwundete · Gefallene · Leichen · 93. französisches Linienregiment · 96. französisches Linienregiment · Soldbücher · Briefeschreiben · Feldpost · Feldpostkarten · Grammophone · Schallplatten · Granaten
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 13: Leben und Tod in den Schützengräben“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-29> (aufgerufen am 01.05.2024)