Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ von Scotti, Ausmarsch und erste Kriegswochen des 5. Rheinischen Dragoner-Regiments von Manteuffel aus Hofgeismar, 1914

Abschnitt 10: Vizewachtmeister Roth in französischer Gefangenschaft

[35-37] Ich wurde nun zunächst dem Brigadestab vorgeführt und verhört. Dasselbe wiederholte sich bei dem Divisions- und Korpsstab. Bestohlen war ich auch, nur noch Messer, Uhr und Geldtasche hatte ich, sogar die Adlerknöpfe vom Kragen und die silbernen Nationalen von meiner Mütze hatte sich ein französischer Generalstabsoffizier abgemacht. Nun nahm man mir mein Messer ab. Ich bat den Offizier, es mir zu lassen, weil es ein Geschenk sei, aber er ließ sich auf nichts ein, sondern erwiderte, nach dem Kriege würde er mir mein Messer wieder zustellen. Ich warte aber bis heute vergebens, der schöne Knickfänger hat ihm sehr gut gefallen, er stammte von der Firma C. W. Engels, Foche bei Solingen, die keine schlechten Sachen lieferte. Das Messer selbst hatte insofern noch eine Bedeutung, weil es mir bald das Leben gekostet hätte. An der Klinge des Messers klebte nämlich etwas Blut. Nun sollte ich sofort ein Geständnis ablegen, daß ich mit diesem Messer Frauen und Kinder gemordet hätte. Das Blut rührte daher, daß ich mir mit dem Messer nach meiner Verwundung den Hemdsärmel herausgeschnitten hatte, um mir einen Notverband anlegen zu können. Dabei war noch etwas Blut an der Klinge hängen geblieben. [S. 36]

Aber der verhörende Offizier wollte mir diese einfache Erklärung nicht glauben. Um mir Furcht einzuflößen, sagte er mir, wenn ich jetzt auf die Straße käme und gelyncht würde, so hätte ich dies der deutschen Heeresleitung zu verdanken, die die blödsinnige Anweisung erteilt hätte, Frauen und Kinder zu morden. Als ich das entschieden zurückwies und als unwahr bezeichnete, verbat mir der Offizier den Mund. Als ich auf die Straße kam und weiterbefördert werden sollte, wurde ich von einer großen Menschenmenge mit Johlen und Gröhlen empfangen. Vor allen Dingen spielte hier das Wort „sale Boche"1 eine große Rolle. Im Handumdrehen glich ich einer Speisäule; wer mich nur erreichen konnte, spuckte mich an. Mit einem Fuhrwerk wurde ich weiterbefördert, dabei traf ich mit einem 23er Dragoner2 zusammen, der auch sehr schwer verwundet war. Er erhielt noch einen Messerstich in die Hand von der wütenden Menge trotz seines schweren Bauchschusses. Wir lagen lang in einem Wagen und hatten die Köpfe vorn unter den Kutscherbock gesteckt, um nur die Augen im Kopfe zu behalten, so waren die Menschen gegen uns aufgehetzt. Gegen Abend wurden wir in einem Gefängnis untergebracht. Hier traf ich mit dem Grafen v. Pilati3, 1. Kürassier4, Breslau zusammen. Wir beide wurden in einer Zelle untergebracht. Am nächsten Morgen wurden wir von einigen Gendarmen weitergebracht, die Zahl der Gefangenen war inzwischen auf 13 gestiegen, unter ihnen war auch Graf v. Spee5, 4. Kürassier6, Münster. Alle Gefangenen waren mit Ketten gefesselt, jedesmal zwei zusammen. Nur ich hatte das Glück, ohne Kette am Schluß hinterher zu humpeln. Ich hatte das Gefühl, daß sich die Gendarmen doch mir gegenüber etwas schämten. Nebenbei bemerkt, waren die Gendarmen sonst ganz anständig. Als wir auf dem Bahnhof ankamen, wurden der 23er Dragoner und ich nochmals auf dem Güterboden verbunden und bekamen einen Schluck Wein, der stark mit Wasser verdünnt war, und jeder bekam ein Stückchen Weißbrot mit etwas Belag. Dann ging die Reise weiter nach Reims. Dort wurden wir die Nacht über in einem Gepäckraum untergebracht. Hier wurde dem Grafen v. Spee sein schöner Kürassierhelm beschlagnahmt, und zwar von einem französischen General. Der General selber konnte an den großen Grafen nicht heranreichen, weil er zu klein war. Deshalb holte er sich von draußen einen langen Adjutanten, der den Diebstahl vollziehen mußte. Ich hörte aber, der Helm sei später während unseres Vormarsches wieder in deutsche Hände gekommen, also war es nichts [S. 37] mit dem Generals-Souvenir. Mittlerweile kamen zu unserem Transport noch zwei Offiziere. Diese durften sich mit uns nicht unterhalten und wurden auf dem Bahnhof auch getrennt von uns untergebracht. Von Reims ging die Reise über Paris—Versailles. Als wir an Versailles vorüberfuhren, beschlich mich ein seltsames Gefühl. Ich dachte daran, daß hier vor 43 Jahren meine Vorfahren das Deutsche Reich zusammengeschmiedet hatten, nun mußte ich als elender Gefangener diese Gegend passieren. Ich hing diesem Gedanken nach, bis wir nachts um 1 Uhr in Rennes ausgeladen wurden und von einer Husaren-Eskadron bis in ein Militärgefängnis eskortiert wurden. Ein Fürst konnte auch nicht festlicher empfangen werden. Ich persönlich wurde aus meiner Versailles-Träumerei herausgerissen durch das Johlen und Gröhlen des Pöbels, der dauernd ein Spottlied auf Bismarck sang; den Text verstand ich nicht, aber die Melodie liegt mir noch in den Ohren, als wäre es gestern gewesen. In Rennes blieben wir zwei Nächte, dann wurden wir in das berühmte Gefangenenlager Dinan-Cotes du Nord gebracht. Ich selbst mußte mich trotz meiner Verwundung in der Nähe der Wache an einen Steinhaufen setzen und unter der Aufsicht des Einjährigen Grafen v. Spee mit der linken Hand Steine klopfen für die Grande-Nation.

Das Lagerleben selbst will ich der Beurteilung meiner Mitgefangenen Kameraden überlassen. Eins steht fest: Ich glaube nicht zu viel zu sagen, daß sich hier die Franzosen eins der größten Denkmäler wegen unmenschlicher Behandlung an den deutschen Kriegsgefangenen gesetzt haben; denn es besteht zu Recht der Ausspruch:

„Dinan, die Hölle der deutschen Kriegsgefangenen!"


  1. D.h. "dreckiger Deutscher".
  2. Das Garde-Dragoner-Regiment (1. Großherzoglich Hessisches) Nr.23 aus Darmstadt.
  3. Vielleicht der Schriftsteller Eustachius Graf Pilati von Thassul zu Daxberg (geb. 1860)
  4. Das Leib-Kürassier-Regiment "Großer Kurfürst" (Schlesisches) Nr. 1 aus Breslau.
  5. Möglicherweise Heribert Ferdinand Oktavian Graf von Spree (1863-1939), Oberst und Flügeladjutant.
  6. Das Kürassier-Regiment "von Driesen" (Westfälisches) Nr. 4.

Personen: Scotti, von · Spee, Graf von · Roth, Vizewachtmeister · Bismarck, Otto von · Pilati, Graf von
Orte: Breslau · Solingen · Münster · Reims · Paris · Versailles · Rennes · Dinan · Cotes du Nord
Sachbegriffe: 5. Rheinisches Dragoner-Regiment von Manteuffel · Dragoner-Regiment Nr. 5 · Diebstähle · Franzosen · Kriegsgefangenschaft · Kriegsgefangene · Generalstabsoffiziere · Messer · Sale Boche · Anspucken · Gefängnisse · Dragoner-Regiment Nr. 23 · Dragoner · Kürassiere · Gendarmen · Einjährige · Leib-Kürassier-Regiment Großer Kurfürst (Schlesisches) Nr. 1
Empfohlene Zitierweise: „von Scotti, Ausmarsch und erste Kriegswochen des 5. Rheinischen Dragoner-Regiments von Manteuffel aus Hofgeismar, 1914, Abschnitt 11: Vizewachtmeister Roth in französischer Gefangenschaft“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/90-10> (aufgerufen am 29.04.2024)