Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 32: Gefahrvoller Rücktransport als Verwundeter

[376-377]
Dann kamen zweie — was weiß ich wer! — des Weges mit einer Trage. Die sollten mich fortschaffen. Wie ich so auf der Bahre lag und von den lieben Kameraden Abschied nahm, da wurde es mir doch schwerer als ich gedacht. Und besonders von einem, der mit eigener Gefahr noch eine Weile meine Hand hielt, ward's mir doppelt schwer; es war mein Kamerad Kurt L., den nun auch längst die flandrische Erde deckt. Es war die Szene, wie sich der junge französische Marquis von dem blonden Kornett Rilke trennen muß, wie es da in Raimer [!] Maria Rilkes Büchlein heißt, daß einer vom andern soviel erfahren und wie sie ineinandergewachsen waren, ohne es selbst zu merken, Freunde geworden. . . . Ja, wir sind auch Freunde geworden in Not und Tod; und wo könnte Freundschaft dauernder gegründet werden als in solchen Stunden. . . .

Was jetzt folgt, rechne ich zu den fürchterlichsten Augenblicken meines Lebens! Kaum haben mich die Träger 150 Meter fortgeschafft, als ein heftiges Schrapnellfeuer einsetzt. Aus urplötzlich erwachendem Selbsterhaltungstrieb setzen mich die beiden ab, zudem noch neben einem einzelnen Häuschen, ein treffliches Artillerieziel, und suchen das Weite. ... Vergebens, daß ich ihnen nachrufe. ... Da liege ich denn und kann nicht vor und zurück, und die Schrapnells platzen in immer dichterer Nähe und [S. 377] jetzt: Bum, Bauz, Krach ... Granaten! ... und immer rückt's näher, das feindliche Streufeuer. Schon höre ich den Boden jedesmal unter dem Aufschlag der Geschosse erzittern. ... Da plötzlich taucht unser Hauptmann auf, der zur Front will. Er sieht mich, kommt zu mir: „Was ist denn mit Ihnen los?" — „So und so, Herr Hauptmann."— Und dann beruhigt er mich und spricht mit mir und wie schade es sei, daß nun keiner mehr Kompagnietagebuch führe. . . . Ein Viertelstündchen ist er so bei mir geblieben im heftigsten Feuer. — „Leben Sie wohl und daß alles gut werde! Und ich will Ihnen sofort ein paar beherzte Leute senden."— „Danke, Herr Hauptmann, auf Wiedersehen, Herr Hauptmann!" . . . Ein Mensch, wie ich selten jemanden schätzen gelernt; wie ein Vater für die Soldaten besorgt, die für ihn mit Recht durchs Feuer gehen. . . .

Und nicht lange darauf kommen zwei starte Krankenträger unseres Bataillons, der Wehrmann H. von meiner dritten Kompagnie und einer aus der vierten. Die nehmen mich abwechselnd auf den Rücken und tragen mich zurück, während rings um uns die Bleikugeln in die fleischigen Rübenblätter klatschen. Endlich, endlich in Sicherheit. . . .

In jenem Wäldchen, aus dem wir einst zum ersten Angriff auf Langemarck vorgingen, liegt ein kleines Schlößchen. In ihm befindet sich unser Hauptverbandsplatz. Ich erhalte einen noch dichteren Verband um meine noch immer blutende Wunde und werde auf Stroh zur Ruhe gebettet. Da geht am Abend noch ein Transport nach rückwärts und ich kann mich in eine Decke gehüllt noch neben den Kutscher auf einen Lazarettwagen zwängen. So fährt der Zug zurück, durch die mondhelle Nacht. Der Kutscher neben mir ist schweigsam, und es ist mir lieb so. Hinter mir der flammende Horizont, wo das Ungeheuer des Krieges sich reckt und streckt und die Erde zerrt und reißt, daß sie blutig geschunden zergeht, und die Luft zu Feuer werden läßt, zur gierigen Flamme, die alles verlohen läßt, zerfallen in Glut und Staub und Asche. . . . Blutrot der Nachthimmel bis hinauf zu den Sternen und dem einsam wandelnden Mond. . . . Das ist der Krieg . . . Kaum sehe ich zurück, kaum höre ich den grollenden, rollenden Donner der Geschütze dumpf und dumpfer werden. . . .


Personen: Weidemann, Wilhelm · Rilke, Rainer Maria
Orte: Langemark
Sachbegriffe: Verwundungen · Krankentragen · Gefallene · Schrapnells · Granaten · Kompanietagebücher · Hauptmänner · Wehrmänner · Landwehr · Verbandplätze · Lazarettwagen · Kanonendonner
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 106: Gefahrvoller Rücktransport als Verwundeter“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-32> (aufgerufen am 19.05.2024)