Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Percy Graf von Bernstorff, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an den Kaiser, 1917-1918

Abschnitt 18: Bericht vom 27. April 1918 (3)

[963-964] Die Arbeiter der großen industriellen Betriebe waren noch verhältnismäßig besser versorgt wie der kleine Mittelstand, denn die Schleichversorgung hat auch im hiesigen Bezirk einen ungeahnten Umfang angenommen. Ob die Versuche, ihn einzuschränken, Erfolg haben werden, ist recht zweifelhaft. Gelang hiernach die Ernährung der Bevölkerung in den Städten, so erforderte die Durchführung erhebliche Eingriffe in die Wirtschaftsführung der Landwirte und hierzu eine außerordentliche Tätigkeit der Verwaltungsbehörden und ihrer Organe. Die Besitzer wurden durch fortgesetzte Schätzungen und Erhebungen beunruhigt, es mußte ihnen Heu, Stroh, Hafer in solchen Mengen weggenommen werden, daß sie für ihr eigenes Vieh kaum etwas übrig behielten. Die Brot- und Fettration der Selbstversorger wurde herabgesetzt, endlich mußten deren letzten Schweine abgeschlachtet werden. Jetzt steht den Landwirten ein starker Eingriff in die Rindviehbestände bevor. Daß durch alle diese Eingriffe die Stimmung der Landwirte nicht gehoben wurde, ist nur begreiflich. Die von hier aus im Verein mit dem stellv. Generalkommando des XI. Armeekorps eingerichtete Aufklärungsorganisation hat sich bis ins letzte Dorf hinein erstreckt und bewirkt, daß das Verständnis für die Bedürfnisse der Städte und der Heeresverwaltung bei den Landbewohnern geweckt wurde. Die Zuversicht, mit der den Erzeugern vorgehalten werden konnte, daß es sich um den Höhepunkt des Krieges und um das letzte Jahr der feindlichen Aushungerung handele und daß das letzte Opfer von ihnen verlangt werden müsse, verfehlt ihre Wirkung nicht.

Nach allen Opfern des Emtejahres ist die Zuversicht der Landwirte wieder etwas gestiegen durch die günstige Witterung des Frühjahrs. Die Bestellungsarbeiten sind trotz fehlenden Düngers und verringerter Spannkraft gut vonstatten gegangen, und der Stand der Feldfrüchte ist bis jetzt besonders [S. 964] gut, so daß dem Landwirt doch der Lohn für seine Opfer und für die Schwierigkeiten, die ihm auferlegt wurden, winkt.

Neben den Emährungsschwierigkeiten lastet auf der Bevölkerung zur Zeit die ungewöhnliche Teuerung, unter der Beamte und Mittelstand am meisten leiden, sowie die Bekleidungsfrage, insbesondere hinsichtlich der Schuhversorgung. Es ist zu hoffen, daß es den Reichsstellen gelingt, die Organisation noch zu verbessern.


Personen: Bernstorff, Percy Graf von
Sachbegriffe: Arbeiter · Industrie · Industriebetriebe · Mittelstand · Bauern · Armeekorps XI · Hunger · Witterung · Teuerung · Beamte · Kleidung · Schuhe
Empfohlene Zitierweise: „Percy Graf von Bernstorff, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an den Kaiser, 1917-1918, Abschnitt 18: Bericht vom 27. April 1918 (3)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/26-18> (aufgerufen am 18.04.2024)