Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Percy Graf von Bernstorff, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an den Kaiser, 1917-1918

Abschnitt 13: Bericht vom 22. Oktober 1917 (2)

[958-959] Einen Druck auf die Stimmung der Bevölkerung übt die geringe Aussicht [aus], genügend mit Kohlen versorgt zu werden. Der Winter steht vor der Tür, und noch konnten wegen mangelnder Anfuhr längst nicht sämtliche 30.000 Haushaltungen der Stadt Kassel mit Küchenkohlen für den Winter versorgt werden. Der Bedarf an Zimmerbrand ist erst zu einem geringen Teil gedeckt, Untermieter sind bislang noch nicht berücksichtigt worden. Drückend wird dieser Mangel namentlich von kinderreichen Familien empfunden, und sorgenvolle Klagen werden laut. Bei eintretender starker Kälte wird man vor einem wirklichen Notstand stehen, der die Stimmung in der Bevölkerung nachteiliger beeinflussen muß als der Mangel an Nahrungsmitteln.

Niederdrückend wirkt ferner die in den Städten immer schärfer auftretende Fettnot. Um die Fleischrationen im Sommer zum Ausgleich für das fehlende Fett heraufsetzen zu können, hat ein starker Eingriff in die Milchviehbestände vorgenommen werden müssen, und es ist die Milch- und Buttererzeugung entsprechend zurückgegangen. Schweine sind kaum mehr vorhanden, Öl kommt nur in verhältnismäßig sehr geringen Mengen zum Verkauf und ist so teuer, daß es für die unteren Klassen und den Mittelstand kaum zu erschwingen ist. Unter diesen Umstände ist der Hauptteil der städtischen Bevölkerung auf wenige Gramm Fett oder Margarine angewiesen und leidet in der Tat Not. Belastend auf die Stimmung aller Schichten, namentlich des Mittelstandes, wirkt auch die immer drückender werdende Teuerung, die sich mehr und mehr auf sämtliche Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens [S. 959] erstreckt. Die von den staatlichen und kommunalen Behörden geleisteten Teuerungszulagen an die Beamten bilden zwar eine wertvolle Beihilfe, immerhin können sie nur als gering empfunden werden, gegenüber der Preissteigerung von oft mehreren Hundert Prozent. Nach alldem ist die Stimmung wohl gedrückt, sie ist aber nicht verzagt. Das Bewußtsein lebt in allen vernünftig denkenden Menschen, daß dank der guten Kartoffelernte, die bei gutem Wetter größtenteils vollendet ist, Hunger im kommenden Winter nicht eintreten wird. Die Entbehrungen, die vorhanden sind und die noch kommen werden, werden von allen gemeinsam getragen; die Behörden tun alles, um sie, soweit es in ihren Kräften steht, erträglich zu machen. Fehler werden hier und da nicht vermieden werden können, die Schuld an den schweren Verhältnissen trägt allein der Vernichtungswille unserer Feinde.


Personen: Bernstorff, Percy Graf von
Orte: Kassel
Sachbegriffe: Kohlen · Kohlenversorgung · Brennstoffversorgung · Fettversorgung · Fleischversorgung · Schweine · Teuerung · Beamte · Preisentwicklung · Kartoffeln · Hunger · Behörden
Empfohlene Zitierweise: „Percy Graf von Bernstorff, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an den Kaiser, 1917-1918, Abschnitt 13: Bericht vom 22. Oktober 1917 (2)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/26-13> (aufgerufen am 20.04.2024)