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Uraufführung von Hochhuths „Hebamme“ unter anderem in Wiesbaden und Kassel, 4. Mai 1972

Das Stück „Die Hebamme“ von Rolf Hochhuth (1931–2020) wird zeitgleich im Schauspielhaus Zürich, in den Münchener Kammerspielen, an den Städtischen Bühnen in Essen, am Deutschen Theater in Göttingen, am Hessischen Staatstheater in Wiesbaden und am Staatstheater in Kassel uraufgeführt. Das von dem Autor seit Herbst 1971 angekündigte Stück,1 das am Jahresende 1971 als Buch erschienen ist, setzt sich satirisch mit den sozialen Gegensätzen, mit Korruption und Parteiengekungel in einer nordhessischen Kleinstadt auseinander, und ist die erste Komödie des 1931 in Eschwege geborenen Dramatikers.

Wilhelmsthal, eine imaginäre nordhessische Kleinstadt im Zonenrandgebiet, steht kurz vor der Einweihung einer baufrischen Reihenhaussiedlung, die man für Musiker der Bundeswehr errichtet hat – ausgerechnet in unmittelbarer Nachbarschaft des städtischen „Elendsquartiers“, einer Barackensiedlung alter Menschen, die die Stadtbewohner verächtlich „Chicago-Nord“ betitelt haben.

Das ungleiche Gegenüber von sozialem Elend und gutbürgerlicher Repräsentation der Streitkräfte ist der CDU-Stadtverordneten, Diplom-Hebamme und Diakonisse Sophie ein Dorn im Auge. Listig benutzt sie ihr Alter Ego, die Identität der befreundeten Feldmarschalls-Witwe Baronin von Hossenbach, die in den letzten Kriegstagen verstarb und deren Papiere sie fälschte, um (längst eingereichte) Wiedergutmachungsansprüche für erlittenes Unrecht des Marschalls (ein Opfer des NS-Regimes) geltend zu machen, und zwar ganz im Sinne der sozial benachteiligten Slumbewohner. Noch bevor die entsprechenden Mittel tatsächlich zur Verfügung stehen, gelingt es der Ordensschwester inkognito, die Alten aus „Chicago-Nord“ mit Hilfe der avisierten Gelder zuerst in ein ordentliches Wohnheim, und mit Hilfe von Manipulationen, Bestechung und List schließlich sogar in die neu errichteten Reihenhäuser der Bundeswehr umzusiedeln. Die Beteiligten in Sophies Spiel, samt und sonders Amt- und Würdenträger der Kleinstadt Wilhelmsthal, die sich in ein Dickicht vetternwirtschaftlicher Abhängigkeiten verstricken, werden fast ausnahmslos hinters Licht geführt. Am Ende bringt eine Gerichtsverhandlung alles an Tageslicht, doch Sophie hat ihr Ziel erreicht.

Das im November 1971 im Rowohlt-Verlag veröffentlichte Stück, dessen Komik zum Beispiel in der abschließenden Gerichtsszene an Heinrich von Kleists „Zerbrochenen Krug“ oder Carl Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“ erinnert, enthält nach Auskunft seines Autors drastisch realistische Bezüge: in Kassel werden im Sommer 1971 Obdachlose mit Schlagstöcken aus leerstehenden bundeseigenen Wohnungen vertrieben, die sie zuvor besetzt hatten.2

Das Stück wird 1976 von Wolfgang Spier verfilmt. Inge Meysel, die darin die Hebamme Sophie spielt, erhält für ihre Rolle 1976 den erstmals verliehenen „Goldenen Vorhang“, einen Theaterpreis des 1967 gegründeten Berliner Theaterclub e. V.
(KU)


  1. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.10.1971, S. 24.
  2. Vgl. DER SPIEGEL 29/1971, 12.7.1971, S. 54: Wohnungen: Casus knacksus (eingesehen am 19.10.2016)
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Uraufführung von Hochhuths „Hebamme“ unter anderem in Wiesbaden und Kassel, 4. Mai 1972“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2680> (Stand: 4.5.2023)
Ereignisse im April 1972 | Mai 1972 | Juni 1972
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