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Contemporary History in Hessen - Data · Facts · Backgrounds

Eröffnung einer „Schule der Weisheit“ in Darmstadt, 23. November 1920

Im Rahmen eines Veranstaltungstages eröffnet in Darmstadt die von dem deutschbaltischen Philosophen Hermann Alexander Graf Keyserling (1880–1946) erdachte und gegründete „Schule der Weisheit“, eine „Lehranstalt philosophischen Lehrens und Lernens“. Materieller Träger der Schule, die sich als „unabhängige, philosophische Institution, die von der ethischen Forderung nach einem ganzheitlich bestimmten Mensch-Sein getragen wird“ versteht, ist die ebenfalls von Keyserling gegründete Gesellschaft für Freie Philosophie. Keyserling, 1918 nach Deutschland emigriert und 1919 mit der Veröffentlichung philosophischer Betrachtungen von Eindrücken einer 1911/12 unternommenen Weltreise (HeBIS Das Reisetagebuch eines Philosophen, 2 Bde.) in kurzer Zeit berühmt geworden, folgt mit der Gründung einem Ruf des Großherzogs Ernst Ludwig (1868–1937), der sich nach dem Vorbild der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe eine Art Philosophenkolonie wünschte. Keyserling erachtete jedoch die feste Ansiedelung bedeutender Philosophen in Darmstadt wenig sinnvoll. Gleichfalls lehnt er es ab, geradlinig an die Tradition akademischer Philosophie anzuknüpfen. Vielmehr vertritt Keyserling den Standpunkt, dass die Weisheit als Leitidee seines philosophischen Weltbilds weder durch systematisches intellektuelles Lernen erworben noch durch spezialisiertes Können und isolierte Wissenspflege vermittelt werden kann. Entsprechend fungiert die von ihm gegründete „Schule der Weisheit“ als eine Art „Lebensschule“ und Begegnungsstätte für maßgebliche Persönlichkeiten des geistigen Lebens. Zu den prominenten Unterstützern des Projekts zählen neben dem Großherzog auch der Verleger Otto Reichl (1877–1954)1 und der Schriftsteller Thomas Mann (1875–1955).

Besonders die regelmäßig an der Schule veranstalteten Jahrestagungen stoßen in den folgenden Jahren auf breites Interesse und ziehen zahlreich Prominente aus dem geistigen und politischen Leben an, darunter der Politiker Graf Albert Apponyi von Nagyappony (1846–1933), der Naturphilosoph Hans Adolf Eduard Driesch (1867–1941), der deutsche Philosoph, Anthropologe und Soziologe Max Scheler (1874–1928), der Psychoanalytiker C. G. Jung (1875–1961), der Ethnologe Leo Frobenius (1873–1938), der Theologe Nikolaus von Arseniew (1888–1977), Friedrich Gogarten (1887–1967; Mitbegründer der Dialektischen Theologie), der Rabbiner Leo Baeck (1873–1956), der Sinologe und Theologe Richard Wilhelm (1873–1930), der Theologe, Politiker und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch (1865–1923), der Philosoph Leopold Ziegler (1881–1958) und viele andere mehr.
(KU)


  1. Der von Otto Reichl geführte Reichl & Co., Verlag GmbH wird unter der Ägide Keyserlings während der 1920er Jahre zum Herausgeber zahlreicher der bedeutendsten zeitgenössischen philosophischen und geistesgeschichtlichen Werke. Zwischen 1919 und 1927 erscheinen die Vorträge der Darmstädter „Schule der Weisheit“ in den vom Reichl-Verlag veröffentlichten Jahresbänden „Der Leuchter“.
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„Eröffnung einer „Schule der Weisheit“ in Darmstadt, 23. November 1920“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/533> (Stand: 23.11.2022)
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