Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Contemporary History in Hessen - Data · Facts · Backgrounds

Eröffnung der documenta IV in Kassel, 27. Juni 1968

Zum vierten mal seit 1955 wird die documenta in Kassel eröffnet. Sie ist die deutschlandweit (und darüber hinaus) bedeutendste Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst. Eine bedeutende organisatorische Neuerung ist die Einführung eines 24-köpfigen Gremiums, dass über die Teilnahme der einzelnen Künstler bzw. ihrer Kunstwerke abstimmt. Die entsprechenden Vorschläge werden von Arbeitsausschüssen eingereicht. Die Auswahl der gezeigten Werke oblag bei den drei vorangegangenen Ausstellungen (1955, 1959 und 1964) noch weitgehend dem Initiator der allerersten documenta, dem Kasseler Hochschullehrer und Designer Arnold Bode (1900–1977), und dem Kunsthistoriker Werner Haftmann (1912–1999).

Ein wichtiger Ausstellungsschwerpunkt ist die Präsentation von Pop Art-Werken überwiegend amerikanischer Künstler. Die documenta bietet einen breiten Querschnitt als Überblick über diese seit Mitte der 1950er Jahre in den USA und Großbritannien entstandene Kunstrichtung, nachdem bereits andere (Wander-) Ausstellungen 1964 erstmals US-amerikanische Pop Art in Europa gezeigt hatten.

Auch die documenta bleibt im „Revolutionsjahr“ 1968 nicht von den gegen das Establishment aufbegehrenden Stimmen der jüngeren Generation verschont. Bereits im Vorfeld hatte es Spannungen innerhalb des auf zwei Dutzend Köpfe angewachsenen „documenta-Rates“ über die konzeptionelle Ausrichtung gegeben. Der renommierte Kunsthistoriker und Kurator Werner Schmalenbach (1920–2010) war bereits im Oktober 1967 „aus Gründen künstlerischer Überzeugung“ von seiner Funktion als Mitglied des vielköpfigen documenta-Rates zurückgetreten, den er als „Abstimmungsmaschinerie“ bezeichnete, da man sich in einem „so großen Kreis […] kaum noch zusammenraufen“ könne.1Die die festliche Eröffnung der documenta IV einleitende Rede des Kasseler Oberbürgermeisters Karl Branner (1910–1997) wird von pausenlosem frenetischen Klatschen und Buhrufen, Knallgeräuschen aus Spielzeugpistolen und Forderungen wie „Es gibt keinen Grund mehr, Kunst zu machen. Sprengt die documenta! – Instrument der Unterdrückung“ begleitet.

Bereits im Vorfeld der Ausstellung kam es zu spektakulären Protesten gegen die Organisation des Auswahlverfahrens und das von den Veranstaltern verwirklichte Konzept. Eine Hamburger Künstlergruppe bezeichnet die gesamte Ausstellungsleitung als vom Kunsthandel korrumpiert. Arnold Bode wird zum Vorwurf gemacht, bestimmte Künstler durch gezielte Einflussnahme „pushen“ zu wollen. Zu einem Eklat kommt es am Vortag, als eine Gruppe von Personen, unter ihnen die bekannten Künstler Wolf Vostell (1932–1998) und Jörg Immendorff (1945–2007), während der Pressekonferenz eine gezielte Störaktion durchführten. Die Ausstellung wird nach 100 Tagen, am 6. Oktober 1968 ihre Tore wieder schließen.
(KU)


  1. Schmalenbach begründete seinen Rückzug in erster Linie durch den Umstand, dass der documenta-Rat darin überein kam, erstmals auf einen Großteil der bereits etablierten Nachkriegs-Moderne zu verzichten, um schwerpunktmäßig nur noch den „ungesicherten jüngsten Kunstrichtungen“ ein Forum zu bieten Die Präsentation von Neuartigem sei dabei der Sache nach richtig, doch habe den aktuellen, und seiner Auffassung nach sehr kurzlebigen Strömungen eine „äußerst strenge Auswahl aus der Kunst der letzten zwanzig Jahre“ voranzustehen. Zitiert nach DER SPIEGEL 47/1967, 13.11.1967, S. 202-204: „Die Kunst vom Montag ist am Dienstag vergessen“: Interview mit dem Düsseldorfer Museumsdirektor Werner Schmalenbach (Stand: 27.6.2017)
Additional Information
Recommended Citation
„Eröffnung der documenta IV in Kassel, 27. Juni 1968“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/4443> (Stand: 27.6.2022)
Events in May 1968 | June 1968 | July 1968
SatSunMonTueWedThuFriSatSunMonTueWedThuFriSatSunMonTueWedThuFriSatSunMonTueWedThuFriSatSun
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30