Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918

Abschnitt 9: Bericht vom 26. Januar 1917 (5)

[1111-1112] Großartiges hat auch die Anpassungsfähigkeit der Industrie auf allen Gebieten der Munitionsherstellung sowohl als auf dem der Ausrüstung des Heeres und der Flotte mit allem nur erdenklichen anderen Bedarf geleistet. Was den Ersatz des Chilisalpeters angeht, so muß hier der gewaltigen Mengen an künstlichem Salpeters gedacht werden, die zur Zeit in den Höchster Farbwerken und in der Chemischen Fabrik Elektron in Griesheim hergestellt werden. Durch die noch fortgesetzt gesteigerte Produktion dieser großen Werke wird in Zukunft hoffentlich auch eine bessere Versorgung der Landwirtschaft mit diesem wichtigen Düngemittel erfolgen können. Nicht unerwähnt darf hier bleiben, daß die Umstellung vieler chemischer Fabrikbetriebe auf künstliche Salpeter­ und auf Sprengstoffherstellung wiederum eine Reihe von bedeutenden Hilfsindustrien im Regierungsbezirke hat entstehen lassen, so die Steulerwerke im Unterwesterwaldkreise, die sich mit der Herstellung von säurefesten Steinen für die sogenannten Steulertürme befassen. Dieser mit Tonschätzen reich gesegnete Teil des Regierungsbezirks, der dem Rheine bei Vallendar1 benachbart liegt, hat übrigens gerade im Kriege eine industrielle Entwicklung genommen - ich möchte noch die Westerwälder Elektro-Osmose­-Tongewerkschaft (Graf Schwerin-Gesellschaft) als Beispiel benennen - die fast an die Oberschlesischen Verhältnisse erinnert. Ob diese Industrien nach Wiedereintritt friedlicher Verhältnisse alle lebensfähig bleiben können, steht allerdings dahin.

Hand in Hand mit dem so außerordentlich emporgeschnellten Bedarf ist naturgemäß eine erhebliche Preissteigerung aller Industrieerzeugnisse gegangen, was wiederum eine erfreuliche Steigerung der Arbeitslöhne ermöglichte. Arbeitslosigkeit ist im Regierungsbezirk nicht vorhanden, im Gegenteil ist die Nachfrage nach Arbeitskräften, insbesondere nach männlichen Facharbeitern, stets sehr rege. Während in früheren Zeiten gewöhnlich nur der Familienvater erheblich verdienen konnte und damit seine Familie ernährte, arbeitet jetzt fast jedes Mitglied der Familie zu hohen Löhnen. Unter diesen Umständen wird im hiesigen Bezirk bei einem nicht unerheblichen Teile des Volkes die erhebliche Steigerung der Preise sämtlicher Lebensmittel wenigstens einigermaßen ausgeglichen, was in beachtenswertem [1112] Umfange mit dazu beiträgt, daß die Stimmung des Volkes im allgemeinen durchweg gut und hoffnungsfreudig ist.

Schwer zu kämpfen haben zur Zeit die sogenannten Festbesoldeten, denen aus öffentlichen Staats- und anderen Mitteln, soweit nur irgend angängig geholfen werden muß. Wirkliche Not würde aber in den zahlreichen Bade- und Kurorten des Regierungsbezirks herrschen, wenn es sich deren Verwaltungen nicht unablässig angelegen sein ließen, die Kurgäste so gut zu ernähren wie es die vorhandenen Mittel, ohne die übrige Bewohnerschaft hungern zu lassen, nur irgend gestatten.


  1. Rheinland-Pfälzische Stadt im Landkreis Koblenz.

Persons: Meister, Karl Wilhelm von
Places: Höchst · Griesheim · Vallendar
Keywords: Arbeitslosigkeit · Chemische Fabrik Griesheim-Elektron · Farbwerke Hoechst AG · Kur · Löhne · Munitionsindustrie · Preissteigerungen · Salpetergewinnung · Sprengstoffherstellung
Recommended Citation: „Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918, Abschnitt 9: Bericht vom 26. Januar 1917 (5)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/32-9> (aufgerufen am 26.04.2024)