Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918

Abschnitt 6: Bericht vom 26. Januar 1917 (2)

[1108-1110] Volksernährung in Stadt und Land

Die Versorgung der Bevölkerung mit Brotgetreide und Mehl zu festen billigen Preisen ist in Stadt und Land dank der vorsorglichen, vortrefflichen Maßnahmen der Reichsgetreidestelle zur allgemeinen Zufriedenheit gesichert. Auch die Fleischversorgung scheint nach Überwindung der vielen Schwierigkeiten mit Beginn des Jahres 1917 in ein ruhigeres Fahrwasser hineingesteuert zu sein. Der Anteil des einzelnen ist zwar knapp, er ist aber da. Auch hat die öffentliche Bewirtschaftung des Fleisches und die Reichsfleischkarte in allen Kreisen der Bevölkerung die Überzeugung hineingetragen, wie die Staatsregierung alles daran zu setzen sich bemüht, um einer gerechten Verteilung der Lebensmittel die Bahn frei zu machen. Die Stimmung hat sich gerade auf diesem Gebiete seit dem Frühjahr ganz erheblich gebessert.

Auf kaum zu überwindende Hindernisse stößt die gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung mit den im Regierungsbezirk sehr knapp vorhandenen Mengen an Milch und Fett. Die hier zur praktischen Lösung gestellte Aufgabe ist unendlich schwierig geworden. Indessen fängt man in den großen Städten wenigstens an, auch auf diesem Gebiete anzuerkennen, daß die Behörden den guten Willen haben, aus dem Lande an Milch und Butter alles herauszuholen, was nur irgend möglich ist. Größere Städte - wie Frankfurt a.M. - haben auch begonnen, sich durch Einstellen zahlreicher Milchkühe selbst zu helfen. Der Aufruf zur freiwilligen Abgabe von Speck und Schmalz zugunsten der Arbeiter der Rüstungsindustrie hat allenthalben ein erfreuliches Echo gefunden. Die Spenden tragen dazu bei, die Fettnot bei den Leuten, die sie zur Zeit am wenigsten spüren sollten, einigermaßen zu lindern.

[1109] Ein Unglücksstern scheint dagegen über der Kartoffelversorgung zu schweben. Ihre Behandlung durch die Reichskartoffelstelle hatte, nachdem aus den harten Lehren, welche Winter und Frühjahr 1916 gebracht, die Erfahrungen gezogen und verwertet waren, im Spätsommer 1916 gerade angefangen etwas Zutrauen zu finden, als die schlechte Ernte des Herbstes den Zweiflern wiederum die Bahn freigab. Zur Zeit bemühe ich mich, allenthalben Verständnis für den bitteren Zwang einer Sparsamkeit im Kartoffelverbrauch zu erwecken, wie eine solche, soweit ich mich erinnern kann, noch niemals da war, und gleichzeitig das Saatgut unbedingt sicherstellen zu lassen. Der Abgabe der verlangten landwirtschaftlichen Erzeugnisse tritt vielfach ein starker passiver Widerstand entgegen, wesentlich wohl aus der irrtümlichen Ansicht heraus, daß man für sich und seinen Haus- und Viehbestand nicht genügend zur Ernährung zurückbehalten dürfe. Daneben zeigt sich leider auch an einzelnen Stellen eine Sucht nach unrechtmäßigem Gewinn, die vor der Ausbeutung der allgemeinen Notlage nicht zurückschreckt und trotz der an sich schon hohen Preise, die den Landwirt zur Zeit allgemein in eine finanziell wesentlich günstigere Lage gebracht haben, noch höhere verlangt und erhält. Andererseits muß aber der eiserne Fleiß und die unermüdliche Arbeit anerkannt werden, mit der die Landwirte, die zurückgebliebenen alten Leute, die Frauen, die Kinder usw. ihr Land bestellen, den Fortgang der Wirtschaft und damit die Ernte und die Volksernährung immer wieder von neuem zu sichern bereit sind. So konnten denn - allerdings nur dank der Mitarbeit von Kriegsgefangenen - die Feldarbeiten bisher noch fast lückenlos besorgt werden, zumal in der Zeit der Hauptfeldbestellung reichliche Beurlaubungen stattfanden.

Ruhestörungen infolge der Ernährungsfragen sind nirgends aufgetreten, obwohl leider in einem großen Teil des Regierungsbezirks, insbesondere aber in der Stadt Frankfurt a.M. infolge der tatsächlichen wirtschaftlichen Abschließung des landwirtschaftlich leistungsfähigen Großherzogtums Hessen, welches im Frieden ganz erhebliche Mengen seiner Erzeugnisse - Milch, Butter, Eier, Gemüse, Geflügel und Wild u.a. - im Regierungsbezirke Wiesbaden abzusetzen pflegte, Schwierigkeiten zu überwinden sind, die nach Errichtung des Deutschen Reichs bis vor anderthalb Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Von diesen Schwierigkeiten kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man in Betracht zieht, daß zwischen Frankfurt a.M. und den preußischen Landesteilen, auf die diese große Stadt als ihr wirtschaftliches Versorgungsgebiet im Kriege nunmehr ganz unvermittelt hingewiesen ist, in Friedenszeiten nur bescheidene wirtschaftliche Beziehungen bestanden hatten. Ist es doch schon im Frieden schwer, von jedermann stürmisch begehrte Waren, die nur knapp auf Lager sind, von einem fremden Händler zu erlangen, der doch naturgemäß erst seine alten Kunden zu befriedigen bemüht ist! Leider fehlt über die wirtschaftliche Abhängigkeit der Stadt Frankfurt a.M. vom Großherzogtum Hessen - und auch von Bayern - für die Friedenszeit eine gute und zuverlässige Statistik. Die Abhängigkeit steht aber außer Frage und wird auch von Hessen gar nicht in Abrede gestellt. Der Umstand, daß der Regierungsbezirk Wiesbaden, der landwirtschaftliche Großbetriebe so gut wie gar nicht aufzuweisen hat, gerade hinsichtlich der allernotwendigsten Lebensbedürfnisse, wie Getreide, Milch und Butter - größere Molkereien gibt es hier überhaupt nicht - und Fleisch durchaus ein Bedarfsbezirk ist, hat sich hiernach, seitdem alles so knapp geworden, in ebenso augenfälliger wie unangenehmer Weise bemerkbar machen müssen. Schwere Sorgen ruhen infolge hiervon besonders auf den Stadtverwaltungen [1110] Frankfurt a.M. und Wiesbaden und auf den Landräten in Höchst a.M. und auch in Rüdesheim a.Rh., denn der Rheingau hat sich leider schon seit Jahren der Landwirtschaft mehr und mehr abgewandt.


Persons: Meister, Karl Wilhelm von
Places: Frankfurt · Höchst · Rüdesheim · Wiesbaden
Keywords: Beschlagnahme · Kartoffeln · Kriegsgefangene · Landwirtschaft · Molkereien · Spenden
Recommended Citation: „Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918, Abschnitt 6: Bericht vom 26. Januar 1917 (2)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/32-6> (aufgerufen am 25.04.2024)