Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918

Abschnitt 5: Skeptische Beurteilungen der Kriegslage

[40-43] Die Meldungen von der Front werden skeptisch aufgenommen

Schon 10 Tage nach der Mobilmachung gingen die ersten Feldpostbriefe von der Front ein. Sie hatten unterschiedliche Inhalte, je nach den Erfahrungen, die die einzelnen Soldaten gemacht hatten. Die älteren schrieben ernst, aber darauf bedacht, daß die Angehörigen sich nicht aufregen sollten, wenn es sie auch noch so sehr getroffen hatte. Als eine der ersten traf die Nachricht vom Tod des einzigen Metzgers im Dorf ein, der eine größere Familie hinterließ. Der älteste Sohn war gerade 14 Jahre alt und aus der Schule entlassen. Er übernahm mit Unterstützung seiner Mutter und seiner Schwestern die Führung der Metzgerei.

In Dillenburg trafen im Krankenhaus die ersten Verwundeten ein, und auch das Kurhaus wurde mit Verwundeten belegt, ebenso wie das Schloßhotel. Wer eine leichtere Verwundung erlitten hatte, fühlte sich zunächst einmal erlöst. Von einem [S. 41] großen Teil der Soldaten wurden Verwundungen bevorzugt, die eine möglichst lange Abwesenheit von der Front bedeuteten, selbst wenn damit gewisse Störungen des Bewegungsapparates verbunden waren. Man sprach dann von Heimatschüssen. Dabei soll man sich aber nichts vormachen, es ging nicht auf Bestellung, der Tod war immer näher als eine befreiende Verwundung.

Die Angehörigen schickten an die mitgeteilten Feldpostnummern Feldpostbriefe und Päckchen, die portofrei waren; jetzt zu Beginn des Winters vor allen Dingen selbstgestrickte Wollstrümpfe, Handschuhe, Ohrenschützer, Wollmützen, Pullover. Weiter bestand der Inhalt der Päckchen aus Tabak oder Zigaretten. Von der Hausschlachtung wurden Wurst, Speck und ähnliches mitgeschickt. Die Mütter und Bräute wußten, was ihre Soldaten gerne hatten. Sie leisteten an ihrer Stelle Gewaltiges.

In der ersten Zeit des Krieges gab es viele Kriegsfreiwillige. Besonders die jüngeren gerieten richtiggehend in Zugzwang. An den Gymnasien, auch in Dillenburg, machten die Schüler nach Abschluß der Unterprima (Klasse 12) das Kriegsabitur, damit sie für den Krieg frei wurden. Sie wurden dann meistens schon nach kurzer Zeit Leutnant. Bei diesen jungen Offizieren war allerdings die Gefahr, den Heldentod zu sterben, besonders groß, wegen ihrer Führungsaufgabe in der vordersten Linie. [S. 42]

Von den Verwundeten erfuhr man zuerst, wie der uns ”aufgezwungene” Stellungskrieg mit festen Fronten schon 1914 aussah. Die Soldaten lagen sich in Gräben, die sie selbst auswerfen mußten, so nahe gegenüber, daß sogar Handgranaten bis zum gegnerischen Graben geworfen werden konnten und dann große Verluste anrichten konnten. Ich habe mir im zweiten Weltkrieg die Stellungen auf dem Hartmannsweiler Kopf im Elsaß angesehen, wo im Laufe der Jahre im ersten Weltkrieg hunderttausend Soldaten hingeschlachtet wurden. Ich halte diesen Berg für ein Symbol des Schwachsinns.

Uns gegenüber, mit dem Eingang von der Hauptstraße, wohnte ein Großonkel, ein Bruder meiner Großmutter väterlicherseits, der auch den Krieg 70/71 mitgemacht hatte, aber nicht so kritiklos wie der Großvater die Siegesmeldungen aufnahm. Als einmal die Meldung aufkam, daß Verdun gefallen sei, sagte er: ”Das glaube ich nicht”. Vorher hatte man schon einmal von der Eroberung Belfort’s gesprochen, die er für unmöglich hielt. Gegenüber den Meldungen der Heeresleitung war er immer skeptisch. [S. 43]

Dann erinnere ich mich daran, daß mein jüngster Onkel, der 1897 geboren war und bei uns in der Familie wohnte, oft von der Front schrieb. Er lag vor dem für seine enormen Verluste bekannt gewordenen Fort Duaumont bei Verdun. Ich hörte, daß die Mutter sagte: "Das sind ja noch die reinsten Kinder”. Einmal war die Mutter besonders aufgeregt: ein gleichaltriger Sechsheldener, der mit dem Onkel in die Schule gegangen war und mit ihm ins Feld zog, wurde in Rufweite des Onkels in einem Schützengraben von einer Granate tödlich getroffen. Dadurch wurden die Sorgen um den Onkel, bei dem meine Mutter als älteste Schwester Mutterstelle vertreten hatte, besonders groß. Sie wurde erst dann wieder etwas ruhiger, als der Onkel wegen einer Verwundung zurückkam und in einem Lazarett in Rees lag. Er wurde dann zu einer Telegraphenabteilung nach Koblenz versetzt und lebte fortan weniger gefährlich.


Persons: Binde, Erwin
Places: Sechshelden · Dillenburg · Verdun · Belfort · Fort Douaumont · Rees · Koblenz
Keywords: Feldpost · Feldpostbriefe · Gefallene · Krankenhäuser · Verwundete · Kurhäuser · Hotels · Feldpostpakete · Strickwaren · Zigarren · Liebesgaben · Fleischwaren · Kriegsfreiwillige · Kriegsabitur · Offiziere · Leutnante · Stellungskrieg · Deutsch-Französischer Krieg 1870-1871 · Granaten · Lazarette
Recommended Citation: „Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918, Abschnitt 5: Skeptische Beurteilungen der Kriegslage“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/14-5> (aufgerufen am 16.04.2024)