Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918

Abschnitt 1: Die deutschnationalen Großeltern

[36-37] Als im Jahre 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Gemahlin in Sarajewo (Serbien) ermordet wurde, fragte man sich in Sechshelden sofort, ob es zu einem Krieg kommen würde. Deutschland war mit der Donaumonarchie verbündet. Man hatte Sorge, daß der Verbündete den Serben den Krieg erklären könnte und daraufhin ein Weltkrieg entstehen würde, denn die Serben hatten Absprachen mit dem zaristischen Rußland und dieses wiederum mit Frankreich und England.

Die Reaktionen in der Bevölkerung waren verschieden. Die Frauen, vor allem die älteren, waren eher besorgt als begeistert. Sie dachten an ihre Männer, Söhne, Brüder. Bei den älteren Männern überwog die Begeisterung. Wie unterschiedlich die Meinungen waren, sieht man am Beispiel aus der engeren Familie.

Die deutschnationalen Großeltern

Da war zuerst der Großvater väterlicherseits mit Vornamen Karl, der fortan nur Karl genannt wird. Seine ganze Zuneigung galt dem Vaterland. Das ergab sich aus seinem Lebenslauf. Er hatte die Kriege von 1866 und 1870/71 mitgemacht und sich bewährt. Dafür erhielt er Auszeichnungen, auf die er verständlicherweise stolz war, und die er bei Feierlichkeiten an der Brust trug. Ich erinnere mich an die Feier zur einhundertjährigen Befreiung von Napoleon im Jahre 1913, bei der eine Linde auf den Wasen gepflanzt wurde. Karl war Vorsitzender des örtlichen Kriegervereins und so engagiert, daß er als Siebzigjähriger noch selbst die Fahne trug. Sie stützte sich auf einen Halter, der an einem Lederriemen um den Leib herum befestigt war. Man konnte ihm ansehen, daß ihm das Tragen Mühe machte. Einzelne Andersdenkende sollen darüber geschmunzelt haben. Später habe ich mich in die Lage von Karl hineinversetzen können.

Das Leben im Dorf war für die meisten eintönig. Der größte Teil der Bürger war, besonders als die Bahn noch nicht gebaut war, über Dillenburg und Haiger nicht hinausgekommen. Karl war durch die Kriege herumgekommen. Und vor allem von Preußen mit seinem Bismarck, seinem Kaiser, seiner Ordnung, seinem Erfolg, war er begeistert. Das war etwas, was über das Dorfleben weit hinausging. Daß ich wenig Kontakt zu ihm hatte, führe ich darauf zurück, daß ich zu viel Respekt vor ihm hatte. Ich fürchtete mich immer davor, daß ich von ihm einmal getadelt oder bestraft werden könnte. Es ist nie dazu gekommen, auch nie zu einem lauten Wort.

Beruflich hatte er dem untersten Beamtenrang, als Bahnwärter bei der Reichsbahn, dem erlernten Handwerk als Küfer den Vorzug gegeben. Seinen Vorgesetzten Bahnmeister, der später Bahningenieur genannt wurde, achtete er sehr. Er ordnete sich selbst wohl so weit unten ein, daß er die Welt in der Hierarchie über sich verklärte: Es waren ihm die gesamten Familienverhältnisse seines Vorgesetzten bekannt, z. B. wie weit es dessen Söhne in Studium und Beruf gebracht hatten. Ich kann mich noch daran erinnern, daß Großvater mit einem gewissen eigenen Stolz erzählte, daß der älteste Sohn Landgerichtsrat geworden war. Aber für seine eigenen Enkel nahm Karl sich wenig Zeit, so daß ich nie den Mut gehabt hatte, ihn einmal um etwas zu bitten.

Die Großmutter schloß sich der politischen Meinung des Großvaters stets voll an, ebenso wie die mit ihrem Mann und vier Kindern im Haus lebende Tochter, die ebenfalls kaisertreu war. Meine Großmutter blieb auch nach dem Krieg dem Kaiser treu. Ich habe wiederholt versucht, ihr beizubringen, daß der Kaiser, der in den Niederlanden ein Refugium gefunden und wieder geheiratet hatte, sich mit seiner Regierung in nicht zu überbietender Weise an Leuten, gerade wie sie und der Großvater es waren, versündigt habe. Damit kam ich bei ihr aber schlecht an. Einmal war sie dabei so in Wut geraten, daß sie mich mit dem Stocheisen verfolgte. Die Fehde dauerte aber nur kurze Zeit, dann waren wir wieder einig. Sie konnte meine Einstellung nicht verändern und wollte es auch nicht. Im Gegensatz zu vielen Großmäulern, die schon wenige Jahre nach dem Kriege den "Stürmer” mit viel Zustimmung lasen und verbreiteten, war sie schlicht kaisertreu und einfach deutschnational gesinnt. Sie wurde 84 Jahre alt und tat mehr als ihre Pflicht, buchstäblich bis zum letzten Tag.


Persons: Franz Ferdinand, Österreich, Erzherzog · Binde, Karl · Bismarck, Otto von · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser · Binde, Erwin
Places: Sarajevo · Sechshelden · Serbien · Österreich · Russland · Frankreich · England · Dillenburg · Haiger
Keywords: Attentat von Sarajevo · Frauen · Deutscher Krieg 1866 · Deutsch-Französischer Krieg 1870-1871 · Auszeichnungen · Kriegervereine · Fahnen · Bahnbeamte · Patriotismus · Deutschnationale · Kaisertreue
Recommended Citation: „Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918, Abschnitt 1: Die deutschnationalen Großeltern“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/14-1> (aufgerufen am 18.04.2024)