Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 5: Militärische Ausbildung in Kassel, Ausrücken

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Unsere militärische Ausbildung machte nun schnellere Fortschritte denn bisher. Am 1. September [1.9.1914], einem erinnerungswerten Tag, bekommen wir Gewehre. War das ein Stolz, die schlanke Waffe in den Händen zu wiegen. Wieviel leichter wurde uns jeder Dienst, mit welchem Eifer ging's ans Griffe-Kloppen und Zielen. Und rann der Schweiß noch so sehr, Gewehrstrecken und Daueranschlag sollten uns doch nicht unterkriegen. Und schließlich war der Tag gekommen, wo wir zum ersten Male hinaus zur Dönche zogen und auf dem Scheibenstand antraten. Da hat uns denn doch etwas das Herz gezittert in Bangen und freudiger Erregung, obwohl wir uns bemühten, so kaltblütig und ruhig wie's irgend ging, den ersten Schuß auf die 150 m-Scheibe abzugeben. Bald ist die erste Scheu überwunden und lustig knallen wir darauf los ohne Mucken und Durchreißen, und jeder Schuß saß, bei dem besser denn bei jenem. So haben wir 5 Übungen geschossen; ich habe sie zu erfüllen gesucht schlecht und recht wie alle die andern. Eigentlich etwas wenig zur Ausbildung!

Alle übrige Zeit, ganz wenig für Exerzieren und etwas mehr für Instruktion abgerechnet, wurde für den Felddienst verwendet. Ausschwärmen, Sammeln, Deckungnehmen, Gelände schätzen und Entfernungen, Sprünge machen und Hurra rufen, das war's, zu dem wir so manchen Morgen auf die Dönche gezogen sind und zur Sichelbach hinter dem Herkules. Allmählich lernten wir sie auch kennen, unsere Herrn Vorgesetzten, und der Witz begann sein Spiel zu treiben; doch davon später. Schöne Tage dies; aber ach! wann konnten wir ausrücken? Draußen Sieg auf Sieg. Wie oft begann unser Dienst damit, daß unser Hauptmann eine neue Waffentat verkündete und wir mit brausendem Hurra unserm Jubel Lauf ließen. Zwar waren wir stolzer und ließen's die andern vom Depot merken, wenn die ohne Gewehre an uns vorüber drängten, aber noch immer keine Aussicht auf Abrücken. Nur als Gefangene sahen wir die Scharen der Franzosen, wenn die Züge auf dem Wilhelmshöher Bahnhof einliefen, und unser Hurra wird ihnen manchmal als schreckvolle Erinnerung um die Ohren gebrandet haben.

Dann aber kam der Tag, daß wir den grauen Rock unserer Kameraden draußen vor dem Feind anziehen durften und den Helm aufs Haupt setzen und den Gurt um den Leib schnallen. Es ging los! So traten wir am zweiten Septembersonntag [13.9.1914] zum Appell an, um in der Wahlershäuser Kirche1 den Segen und das Mahl des Herrn zu empfangen.

Appell auf Appell in allen möglichen Dingen; dann kam der Mittwoch [16.9.1914], an dem unser Bataillon aus Kassel ausrückte. Am Abend vorher schrieb ich meinen Brief an G. L.'s Eltern und ging dann mit Vater und August nach meinem Quartier. Am Tor nahm ich Abschied von Dir, lieber Vater: was lag in den Gefühlen dieses Augenblickes! Ich würde Dich am andern Morgen beim Auszug nicht sehen, Du wolltest als deutscher Mann und preußischer Beamter Deinen Pflichten obliegen. Seine Pflicht tun, unentwegt! Was konntest Du mir besser mitgeben, als dieses Beispiels Lehre. ...


  1. Wahlershausen, westlicher Stadtteil von Kassel östlich unterhalb des Schlosses Wilhelmshöhe.

Persons: Weidemann, Wilhelm
Places: Dönche · Kassel · Wilhelmshöhe · Wahlershausen
Keywords: Gewehre · Herkules (Kassel) · Gottesdienste · Abendmahl
Recommended Citation: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 5: Militärische Ausbildung in Kassel, Ausrücken“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/138-5> (aufgerufen am 28.03.2024)